Rechtsextreme in der Bundeswehr: Kameradschaft im Schatten

Das Wertesystem der Soldaten entsteht in Extremsituationen. Ein stumpfes Regelwerk hilft nicht weiter. Flexible Entscheidungen sind wichtig.

Haltungsschäden in der Bundeswehr – wenn der rechte Arm mal wieder unkontrolliert steil geht Foto: Eléonore Roedel

Angesichts der Gewaltrituale bei der Ausbildung von Soldaten und der fast schon skurril anmutenden Anschlagpläne eines sich als syrischer Flüchtling tarnenden rechtsextremen Bundeswehrsoldaten scheinen sich alle Beobachter einig zu sein, dass es bei der Bundeswehr ein „Haltungsproblem“ gibt. Das „Haltungsproblem“ wird darauf zurückgeführt, dass die Führung der Bundeswehr gegenüber der Truppe die offiziellen Verhaltensstandards nicht durchsetzt.

Die Lösung liegt bei solchen Pro­blem­beschreibungen auf der Hand – noch bessere Schulung in Bezug auf das formale Regelwerk, noch intensivere Kontrolle der Einhaltung des Regelwerks und noch schärfere Sank­tionen, wenn es zu Verstößen dagegen kommt. Übersehen wird jedoch, dass für den Erfolg oder Misserfolg von Armeen die Ausbildung Kameradschaftsnormen enorme Bedeutung haben.

In der öffentlichen Debatte dominiert ein fast rosarotes Bild davon, wie sich Kameradschaftsnormen ausbilden. Man scheint daran zu glauben, dass Kameradschaft allein schon deswegen entsteht, weil im Soldatengesetz festgelegt wird, dass der „Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich auf Kameradschaft beruht“ und alle Soldaten verpflichtet werden, die „Ehre und Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen“. Kameradschaft wird hier als eine formale Verhaltenserwartung formuliert, sich auch in Extremsituationen – „Not und Gefahr“ – für Kameraden einzusetzen.

Aber es sind nicht die formalen Festlegungen in einem Soldatengesetz, die zur Ausbildung von Kameradschaftsnormen führen. Vielmehr bilden sich diese quasi im Schatten der offiziellen formalen Organisation aus – in Extremsituationen, in die man als Soldat geraten kann und in denen dann die ganze Person bedroht ist. Die Kameradschaftsnormen entstehen also unabhängig davon, was in Soldatengesetzen steht oder von Vorgesetzten eingefordert wird. Und notfalls wird die Orientierung an diesen Normen von den Kameraden auch mit Mitteln eingefordert, von denen die Armeeführung gar nicht so genau wissen will.

Loyalität und Strafe

Sicherlich – es gibt eine friedfertige Variante bei der Durchsetzung von Kameradschaftsnormen. In der Regel lernen Soldaten schnell, dass man sich Kameraden gegenüber loyal verhält, dass man sie in öffentlichen Situationen nicht bloßstellt, dass man sich gegenseitig hilft, wenn ein Kamerad mit einer Aufgabe überfordert ist, ein Fehler kaschiert werden muss oder kurzfristiges Einspringen erforderlich ist. Im besten Fall bilden sich dabei Vertrauensbeziehungen, die dazu führen, dass man sich gegenseitig unterstützt.

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Wenn jedoch jemand die informalen Verhaltenserwartungen in einer Armee nicht akzeptiert, greifen die anderen Kameraden zu negativen Sanktionen. Solche Sanktionen deuten sich in Armeeeinheiten anfangs durch abschätzige Bemerkungen oder direkte Beschimpfungen an und reichen dann über die soziale Isolierung des Kameraden und die Verweigerung von Hilfeleistungen bis zu direkten körperlichen Bestrafungen. Die Sanktionen dienen nicht vorrangig zum Ausschluss aus dem Kameradenkreis, sondern im Gegenteil zur Durchsetzung informaler Normen. Soldaten oder Polizisten, die solche häufig offiziell verbotenen Erniedrigungen nicht ­melden, sondern über sich ­ergehen ­lassen, werden dann auch konsequenterweise mit dem ­Verbleib im Kameradenkreis „belohnt“.

Wir kennen solche Prozesse des Durchsetzens von informalen Normen aus jeder Organisation; bei Armeen treten sie allerdings in einer gewaltbetonteren Form auf. Aber das ist wenig überraschend: Es liegt nahe, dass in einer Organisation, deren Hauptaufgabe darin besteht, Gewalt anzuwenden, und die zur Durchsetzung von Verhaltenserwartungen gegenüber ihren eigenen Organisationsmitgliedern notfalls auf Gewaltspezialisten in Form von Feldjägern zurückgreift, die Durchsetzung informaler Normen körperbetonter stattfindet als in IT-Firmen, Supermärkten oder Gemeindeverwaltungen. Man kann mit sehr guten Gründen allein schon deswegen dagegen sein, dass sich Staaten Armeen halten. Aber wenn man Armeen für sinnvoll hält, dann darf man vor der häufig brutalen Art der Durchsetzung von Kollegialitätserwartungen nicht die Augen verschließen.

Das Wunschbild der Öffentlichkeit

Die Bundeswehr hat mit ihrem in der Öffentlichkeit ­gezeichneten Wunschbild nichts zu tun. Jenseits der formalen Ordnung gibt es in Armeen immer auch Probleme der Zusammenarbeit, die nicht durch die formale Ordnung gelöst werden können. Vor allem die konkrete Leistungsmotivation der Mitglieder, besonders aber die reibungslose Lösung der Probleme der alltäglichen Zusammenarbeit zwischen den Organisationsmitgliedern lässt sich nicht durch formale Vorschriften allein garantieren. Und genau hier greifen die in Kameradschaftsnormen verdichteten informalen Erwartungen.

Jeder Soldat weiß, dass eine Armee nur deswegen funktioniert, weil von den formalen Regelwerken immer wieder abgewichen wird. Jede Kommandantin einer Logistikeinheit weiß, wie sie bei Revi­sionen „graues Material“ im Feld verstecken muss, weil erst illegale Ersatzteillager sie von dem behäbigen Beschaffungswesen der Armee unabhängig machen. Jeder Leutnant weiß, dass es Sinn haben kann, das verbotene Tragen von Palästinensertüchern in kalten Gefilden teilweise zu dulden, weil dies eine informale „Auszeichnung“ dafür ist, dass jemand im Afghanistaneinsatz war. Und genauso ist jeder Bataillonsführer gut beraten, zu dulden, dass in seiner Truppe Verhaltensnormen auch mit Mitteln durchgesetzt werden, die nicht immer mit den formalen Vorgaben vereinbar sind. Der Soziologe Niklas Luhmann spricht hier von „brauchbarer Illegalität“.

Selbstverständlich wissen Vorgesetzte, dass diese brauchbaren Illegalitäten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Deswegen gehört es zur Kompetenz eines erfahrenen Militärs, bei Besuchen von Verteidigungspolitikern ein Bild der eigenen Einheit zu zeichnen, das diese als Musterfall der Anwendung des formalen Regelwerks der Armee erscheinen lässt. Deshalb ist auch wenig überraschend, dass Verteidigungsminister oft diejenigen sind, die von einem Skandal in ihrer Truppe am meisten überrascht sind.

Die Grenzen der Regelabweichung

Aber zur Klugheit gehört auch, zu wissen, wo die Grenzen der Zulassung von Regelabweichungen liegen. Das Management illegaler Ersatzteil- und Waffenlager funktioniert nur so lange gut, wie sichergestellt wird, dass diese nicht in dunklen Kanälen verschwinden. Das „Übersehen“ des regelwidrigen Tragens von Palästinensertüchern außerhalb des Einsatzes in Wüstengebieten geht nur so lange gut, wie auch sichergestellt wird, dass diese nicht unter Panzerketten geraten. Und auch die Duldung der für Zivilisten gewöhnungsbedürftigen Durchsetzung von Kameradschaftserwartungen geht nur so lange gut, wie sich die Führung darauf verlassen kann, dass dabei Grenzen eingehalten werden.

Nicht das stupide Durchsetzen der von oben verordneten formalen Erwartungen ist Führungsstärke, sondern das klug genutzte Wissen da­rüber, wo die Grenze zwischen einer brauchbaren Informalität und einer für die Armee schädlichen Informalität liegt.

Wenn die Bundeswehr unter etwas leidet, dann darunter, dass man das Gespür dafür verloren hat, welche Regelabweichungen punktuell geduldet werden können und welche nicht. Statt alle bekannt werdenden Abweichungen in der Bundeswehr mit dem Verweis auf „Haltungsprobleme“ miteinander zu vermischen, käme es darauf an, dass die Führung der Bundeswehr die Punkte ­definiert, in denen in keinem Fall Abweichungen geduldet werden.

Wenn formal festgelegt werden würde, dass beispielsweise bei sexuellen Übergriffen, Misshandlungen Kriegsgefangener oder rechtsextremen Betätigungen hierarchische Meldeketten übersprungen werden müssen und die Armeeführung direkt einzuschalten ist, wäre für alle Armeeangehörigen ein klares Zeichen gesetzt, wo die Grenzen der geduldeten Regelabweichungen liegen. Das kann aber nur funktionieren, wenn diese Vorgehensweise auf wenige Themenfelder beschränkt bleibt und nicht jede bekannt werdende Regelabweichung gleich hierarchisch eskaliert werden muss.

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geboren 1966, ist Soziologe und Historiker. 2005 wurde er – als erster Kriegsdienstverweigerer überhaupt – zum Professor an der Bundeswehruniversität in Hamburg berufen. Er ist inzwischen Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld.

Vor kurzem erschien von ihm das Buch „Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“ (Suhrkamp 2015).

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