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Reality-TV ganz anders

■ Das Bürgerfernsehen "Free for All" beim britischen Privatsender Channel 4

„Spiby, du wirst abgefackelt“ und „Spiby, du bist tot“ steht auf einer Hauswand in der Nachbarschaft von Billy Spiby im Little Hulston Estate/Salford. Spiby hat den Haß einiger MitbürgerInnen auf sich gezogen, weil er am Vorabend in einer Sendung des britischen Privatsenders Channel 4 aufgetreten war und dort die Selbstjustizpraxis im Estate angeklagt hatte. Was diesen „Verrat“ in den Augen der Estate-BewohnerInnen noch verschärft, ist die Tatsache, daß Billy Spiby nicht etwa als Interviewpartner in einer von Channel 4 recherchierten Reportage zu sehen war, sondern als verantwortlicher Berichterstatter.

„Free for All“ heißt das Magazin, das betroffenen BürgerInnen das Handwerkszeug moderner elektronischer Berichterstattung zur Verfügung stellt. Auf diese Weise gehen journalistische Amateure landesweit in einem der beiden kommerziellen Fernsehkanäle auf Sendung. Jeden Donnerstag zur besten Sendezeit, direkt nach den Hauptnachrichten, um 20 Uhr. John Samson, Direktor bei der Filmproduktion Filmit, die die Sendung „Free for All“ im Auftrag von Channel 4 produziert, meint, daß dies konsequenter und effektiver sei als Offene Kanäle wie in Deutschland.

Der Produktionsablauf eines „Free for All“-Beitrags beginnt normalerweise mit dem Anruf einer InteressentIn. Wenn das angebotene Thema bestimmte Kriterien erfüllt, dann konzipiert das Filmit-Team zusammen mit den TV-NovizInnen jeden Schritt der Produktion. Die angebotenen Serviceleistungen: Hilfestellung beim Abfassen des Skripts, Einholen von Drehgenehmigungen, Entsendung eines Profi-Aufnahmeteams, Nachbearbeitung durch eine CutterIn, rechtliche Beratung. Wichtig sei, und darauf legt Samson besonderen Wert, daß die Endabnahme des Beitrags durch die Betroffenen erfolge und daß während der gesamten Produktion eng mit ihnen kooperiert werde.

Bei der Frage nach den behandelten topics zählt er auf: Tierschützer dokumentieren ihre Störaktionen eines Sportanglerwettbewerbs, pakistanische FabrikarbeiterInnen konfrontieren eine pakistanische Unternehmerin mit dem Vorwurf der illegalen Beschäftigungsverhältnisse, britische Muslime verbreiten via „Free for All“ ihre Sicht der Golfkriegsereignisse.

Trotz dieser potentiellen Verfügbarkeit für die Öffentlichkeit ist „Free for All“ nichts weniger als ein Offener Kanal. Von etwa 5.000 Anfragen während des letzten Jahres tauchten nur etwa 120 in Form von Beiträgen im Programm wieder auf. Die Redaktion nimmt eine strenge Auswahl vor: Die Themen müssen aktuell sein und kein Aufguß eines bereits im britischen TV behandelten Themas. Um den Kommerz außen vor zu lassen, werden die BürgerjournalistInnen nur mit einem geringen Entgelt (etwa 400 Mark) bedacht.

Sendeplätze für „Free for All“ haben eine lange Tradition bei Channel 4. Bereits während der 80er Jahre präsentierten dort Programme wie „The Friday Alternative“ ungefilterte O-Töne von BürgerInnen. Diese Graswuzel-Orientierung scheint jedoch gefährdet, weil der vierte Kanal seit Beginn dieses Jahres seine Werbezeiten selbst an die Industrie bringen muß. Bis dato hatte Channel 4 in einem beispiellosen Deal mit dem kommerziellen ITV seine Werbezeit komplett abgetreten und dafür mit einem garantierten Mindesteinkommen produziert. Jetzt nimmt der Druck auf Programme wie „Free for All“ stetig zu, auch in ihrem Programmumfeld muß profitorientierter verkauft werden. Gunter Becker

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