Realitätsferne und -nähe in Venedig: Vororthölle und Kindsmord
Lidokino 9: Ein bewegender Gerichtsprozess aus Frankreich und die rührende Geschichte eines wieder veröffentlichten Albums auf den Filmfestspielen.
Auf dem Lido neigt sich der Wettbewerb dem Ende zu, die Stars sind in der großen Mehrheit über den roten Teppich gelaufen, und vom Zuspruch her zu urteilen, sind die Fans mit der Ausbeute glücklich. Den englischen Musiker und Schauspieler Harry Styles etwa erwarteten lautstarke „Harry, Harry!“-Rufe bei der Premiere von Olivia Wildes „Don’t Worry, Darling“. Ihr Thriller spielt in einer bis zur Realitätsferne herausgeputzten Satellitenstadt namens „Victory“.
Verschwörung und obskure Geschäfte lauern hinter der Oberfläche dieser 50er-Jahre-Vororthölle, in der die misstrauische Perspektive der Hausfrauen vorherrscht. Schließlich wissen diese nicht, was ihre Ehemänner für streng geheime Projekte bei der Arbeit verfolgen. Wilde verleiht der Geschichte einen feministischen Twist, bleibt in der Konstruktion der Handlung und der Inszenierung aber enttäuschend flach, ganz wie die Figuren, Harry Styles inbegriffen. Statt im Wettbewerb lief der Film passend außer Konkurrenz.
Außer Konkurrenz finden sich überhaupt interessante Themen im Programm, wenngleich das Ergebnis nicht in jedem Fall überzeugt. So hatte sich der Musikfilm „Dreamin’ Wild“ von Bill Pohlad das originelle Ziel gesteckt, die Geschichte hinter dem gleichnamigen Album der Brüder Donnie und Joe Emerson zu einem Drama auszugestalten. Die Brüder, in einem winzigen Dorf in Washington aufgewachsen, nahmen in den siebziger Jahren selbst eine Platte auf, in einem Studio, das ihr zugewandter Vater, der Donnies Talent fördern wollte, mit eigenen Händen gebaut hatte.
Die Platte verkaufte sich nicht, John arbeitete weiter auf der Farm, während Donnie sich erfolglos als Musiker versuchte. Bis gut 30 Jahre später das Reissue-Label Light in the Attic die Familie aufspürte und eine Wiederveröffentlichung vorschlug. Da hatte es in den sozialen Medien schon einen Hype um die Platte gegeben. Nach der Neuauflage folgte unter anderem ein Artikel in der New York Times, auf dem auch das Drehbuch beruht.
Pohlad erzählt das sehr treu und ruhig, so ruhig, wie die meisten Mitglieder der Familie Emerson sind. Und trotz der Besetzung, bei der Donnie von Casey Affleck und der Vater von Beau Bridges gegeben wird, erreicht der Film selten mehr als eine gemütliche Atmosphäre für die durchaus gelungenen Songs der Emersons und der persönlichen Last, die das gescheiterte Talent Donnie mit sich herumschleppt.
Eine gänzlich andere Last tragen die Protagonisten in „Saint Omer“, dem Spielfilmdebüt der französischen Dokumentarfilmerin Alice Diop. So reist die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) in die nordfranzösische Gemeinde Saint-Omer, um einen Gerichtsprozess zu verfolgen. Eine Frau ist angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter getötet zu haben. Sie hatte sie am Strand der Flut überlassen. Damit gibt es in Venedig dieses Jahr gleich drei Gerichtsfilme im Wettbewerb.
Die meiste Zeit folgt der Film dem Verfahren gegen die Angeklagte, Laurence Coly (Guslagie Malanda), man sitzt mit Rama im Gerichtssaal, folgt den Ausführungen Colys. Diese Szenen sind eindringlich direkt und zugleich nüchtern gestaltet. Alice Diop hat in die Erzählung jedoch einen zweiten Strang eingeflochten.
Denn Rama ist, wie die Angeklagte und wie auch Diop selbst, senegalesischer Abstammung, und Rama ist schwanger. In ihrer Geschichte geht es vornehmlich um das angespannte Verhältnis zur eigenen Mutter und Ramas Angst vor ihrer Mutterrolle.
Leider bleibt die Figur Ramas, ein Alter Ego Diops, bis zur Undurchsichtigkeit blass. Was die Themen, die durch ihre Perspektive hinzukommen, unterentwickelt erscheinen lässt. Man kann nicht richtig teilnehmen an ihren Sorgen, weil sie im Vergleich zum Schicksal von Laurence Coly zu diffus bleiben. Ein bisschen scheint da eine Chance vertan worden zu sein.
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