■ Reaktionen zu Erfurt: „Andere niedermachen, kann viele Formen annehmen“: Eher Gegen- als Miteinander
betr.: „Amoklauf in Erfurt“ u. a., taz vom 27. 4. 02
Das furchtbare Geschehnis von Erfurt ist schockierend, aber nicht überraschend. Zu lange schon liegen die Probleme an den deutschen Schulen klar auf der Hand: Viel zu häufig überforderte Lehrer treffen auf Schüler, die sich nicht minder häufig ungerecht behandelt fühlen.
Es ist eher ein Gegeneinander als ein Miteinander, von einer gemeinsamen Gesprächskultur kann bisher nicht die Rede sein. Die meisten Lehrer haben keinerlei psychologische Ausbildung. Es gibt fast kein Gewalttraining. Konfliktsituationen sind sie oft nicht gewachsen.
Der real existierenden Betroffenheit der Bildungspolitiker steht die Tatsache gegenüber, dass dieselben Politiker die vielfachen Mahnungen überhört und Däumchen drehend abgewartet haben, bis sich die allgemeine Misere in solch einem Gewaltakt entlädt. Die Schule betrachten sie als ein reines Instrument fließbandartiger Wissensvermittlung, nicht aber als einen Lebensraum, in dem es auch darum geht, den Kindern und Jugendlichen soziale Kompetenz zu vermitteln. Tatsächlich mussten erst 17 Menschen sterben, bevor die Kultusminister sich am Samstag zu einer Konferenz trafen, um darüber zu beraten, ob denn eventuell irgendetwas falsch gemacht worden sei. Nun wäre es verwegen, zu hoffen, dass in unserem Land von einem auf den anderen Tag eine kluge Bildungspolitik gemacht würde. Aber vielleicht gibt es ja doch ein paar ganz kleine Schritte in die richtige Richtung.
HUBERT SCHIRNECK, Weimar
Was in den nächsten Tagen abgeht, kann ich mir schon vorstellen. Da werden Psychologen befragt, Politiker melden sich (auch ungefragt) zu Wort, und alle finden irgendwelche Antworten. Die Tat war schrecklich, das steht außer Frage! Aber wer bestimmt die Rahmenbedingungen, schließt Jugendzentren, stellt keine Pädagog(inn)en mehr ein, hat Probleme mit ungefärbten Haaren? Warum wird in den Medien allzu häufig eher negativ als positiv über Jugendliche berichtet? Wenn einer der Oma die Handtasche klaut, ist das eine Zeitungsmeldung wert; beladen andere Jugendliche ein Großraumflugzeug mit Hilfsgütern zur frühen Stunde oder organisieren ehrenamtlich Musikveranstaltungen in soziokulturellen Zentren oder engagieren sich in Kirchengemeinden – das interessiert nicht!
Die „Werbung“ hat ein Auge auf junge Menschen, sonst kaum jemand! MATTHIAS BRIEDEN, Oberhausen
Kränkungen gehören mitnichten von vornherein zum Erwachsenwerden. Sie sind vielmehr eine Ausdrucksform einer Gesellschaft, in der es viel einfacher ist, sich dadurch selbst zu behaupten, indem man andere niedermacht, als selbst jemand zu sein. Eine Gesellschaft, in der auch Lehrer meist eher wegsehen, als sich in kleine Problemchen zwischen den Schülern einzumischen – so lange, bis aus kleinen Problemen große geworden sind. Und dann wundern sich auch noch alle Beteiligten über den Mangel an Zivilcourage in unserer Gesellschaft! (Außer den Schülern. Aber die fragt ja eh keiner.)
Andere niederzumachen kann viele Formen annehmen. Wenn die Lehrer als Vertreter der Institution Schule selbst Teil des Problems sind und sich in keinster Weise bewusst sind, was sie da anrichten – da gibt es z. B. den Unterschied zwischen „Du Depp!“ und „Du hast Scheiße gebaut“ –, ist der Schritt von der übertragenen zur wörtlichen Bedeutung des Worts „niedermachen“ klein genug. Wir haben’s in Erfurt erlebt. MATTHIAS ULRICHS, Nürnberg
Rache und postmortaler Ruhm waren das Motiv der Erfurter Tat. Eine ausschlaggebende Ursache des Massakers ist die Auffassung des Täters, nicht er, sondern die Lehrkräfte seien an seinem schulischen Scheitern schuld. Diese Einstellung ist bei Schülern und Eltern in Deutschland massenhaft verbreitet. Der Lehrer, der schlechte Noten erteilt, ist der Böse – nach der eigenen Leistungsverantwortung hat sich der Erfurter Massenmörder offenbar ebenso wenig gefragt wie all diejenigen, die glauben, dass die Schule ihnen ein Unrecht tut, wenn sie mangelhafte Leistungen mit einer Fünf bewertet – vom seltenen „Ungenügend“ ganz zu schweigen.
Wenn sich diese Selbstgerechtigkeit zum Hass auf Lehrer und Schule steigert und sich mit der täglichen Ausbildung zur Killerbestie (im Fernsehen und in Videospielen wird ständig eine mörderische Selbstjustiz trainiert) verbindet, entsteht jene explosive Mischung, die sich am Gutenberg-Gymnasium nun entladen hat und die jederzeit woanders hochgehen könnte.
Nicht nur der Bundeskanzler mit seiner abfälligen Bemerkung über die Lehrer als „faule Säcke“, sondern gerade auch die Schulreformer und Elternverbandsvertreter müssen sich angesichts des Entsetzlichen fragen, ob nicht die ständige Polemik gegen Lehrer diese letztlich immer mehr ins Fadenkreuz jugendlicher Aggression rückt. Anfeindungen gegen Lehrkräfte, die den Mut haben, Leistungsansprüche zu stellen und Verhaltensnormen durchzusetzen, gibt es an vielen Schulen – wenn auch nicht immer gleich mit Flinte und Revolver.
Die Bluttat von Erfurt zeigt, wie Anspruchsdenken in Terror umschlagen kann. So einzigartig das Verbrechen auch sein mag – die Mentalität, die dazu beitrug, ist sehr populär.
KURT EDLER, Lehrer, Hamburg
Ich möchte auch nicht einfach so über den Haufen geschossen werden, aber wenn der Erfurter Amoklauf dazu führt, dass in Deutschland die Schützenvereine entwaffnet werden, Schulverweise und Durchfallprüfungen abgeschafft werden und wir Kinder mit der nötigen Liebe versorgt werden, dann sind diese 16 + 1 Menschen doch nicht so sinnlos gestorben, wie Bundespräsident Rau zuerst beklagt. ROMAN CZYBORRA, Berlin
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