Reaktionen auf Siegesmeldungen: Sehnsucht nach guten Nachrichten
Der Vormarsch der ukrainischen Armee bei Charkiw sorgt in Kyjiw für Hoffnung – aber auch Bangen. Freude kommt aber angesichts der Opfer nicht auf.
Sonntage sind in Kyjiw für viele Menschen Tage zum Spazieren – auch wenn es gleich am Morgen anderthalb Stunden Luftalarm gibt und es aus dem wolkenverhangenen Himmel hin und wieder nieselt. Man will Normalität und hat Sehnsucht nach guten Nachrichten. Deshalb werden die Neuigkeiten von der Front schon seit ein paar Tagen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die Stimmung ist irgendwo zwischen Hoffen und Bangen. Vor allem der rasante Vormarsch der ukrainischen Armee in der Region Charkiw beschäftigt die Menschen.
Das merkt man eigentlich überall: in der U-Bahn, irgendwo unterwegs oder im Café. Menschen scrollen auf ihren Smartphones durch Messengerdienste. Am Nachbartisch unterhalten sich zwei Männer über den Krieg. Einer erzählt von der offiziellen Stellungnahme des russischen Militärs zu dessen fluchtartigem Abzug aus Isjum: „Sie nennen es Umgruppierung.“ Beide lachen.
Am Rand des Maidan mitten in der Stadt hat Switlana ihren Stand aufgebaut. In eine warme Jacke eingepackt bietet sie Souvenirs mit aktuellem Bezug an: ukrainische Fähnchen, Fellmützen mit dem Staatswappen und eine Auswahl an T-Shirts. In mehreren Farben gibt es eins, das ein Bild eines ukrainischen Soldaten zeigt, der dem untergegangen russischen Flaggschiff Moskwa den ausgestreckten Mittelfinger zeigt. „Die Geschäfte gehen heute gut“, sagt sie.
Über die Erfolge der ukrainischen Armee in der Region Charkiw ist sie im Bilde. Sie komme selbst ursprünglich von dort, aus Wowtschansk. Der Ort liegt nur rund zehn Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt und ist seit den ersten Tagen der Invasion besetzt. Nun sei die ukrainische Armee nicht mehr weit und sie hoffe, dass der Ort bald befreit werde. „Ich habe Familie dort“, sagt sie. Eine Cousine sei gestorben, weil die Besatzer sie nicht in ein Krankenhaus fahren ließen. In sozialen Medien kursieren unterdessen Meldungen, dass die russische Armee den Ort bereits verlassen hätte. Man müsse erstmal abwarten, meint Switlana.
„So viele Tote“
Taxifahrer Andrej muss man gar nicht erst fragen. Er komme aus dem besetzten Cherson im Süden des Landes und sei Anfang März geflohen. Frau und Kinder seien bei Verwandten im Westen der Ukraine, er in Kyjiw, um Geld zu verdienen. Jeder Ort weniger unter russischer Kontrolle sei ein Erfolg.
Aber besorgt ist er dennoch. Russland halte noch große Gebiete der Ukraine besetzt. „Wir wissen nicht genau, was dort vor sich geht“, sagt er. Aber er fürchtet Schlimmes. Es könne überall sein wie in Butscha, wo hunderte Zivilisten getötet wurden. Um das zu stoppen, müsste die russische Armee aus der ganzen Ukraine vertrieben werden. „Dafür brauchen wir mehr Waffen, auch aus Deutschland.“
Im Kyjiwer Vorort Irpin, der im März umkämpft und teilweise besetzt war, macht sich Soldatin Oksana Sorgen um ihre Mitkämpfer. Sie kenne viele Soldat*innen persönlich, die auch dort im Einsatz sind. Nachrichten über zurückeroberte Gebiete und Städte erreichen sie daher schnell. „Meistens sehe ich ein Foto oder einen kurzen Text auf Facebook“, erzählt sie. „Und ein paar Stunden später oder am nächsten Tag kommt dann die offizielle Bestätigung.“
Der Vormarsch sei natürlich eine gute Sache, aber sie denke auch daran, welche Opfer dafür nötig sind. „Es gibt viele Tote, so oder so.“ Und die könnten alle noch leben, wenn Russland nicht angegriffen hätte. Dazu kämen die Verwundeten. Ein Bekannter sei im Frühjahr schwer verletzt worden. Granatsplitter hätten in beiden Beinen Arterien durchtrennt. Nur weil er sich sofort selbst mit Aderpressen abgebunden hätte, sei er noch am Leben. Die Beine haben die Ärzte sogar retten können, aber richtig laufen könne er auch nach Monaten noch nicht.
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