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Ray und seine Nilpferde

Ray Lewis, bester Abwehrspieler der National Football League (NFL), dominiert erwartungsgemäß auch die Super Bowl, und seine Baltimore Ravens besiegen die New York Giants mit 34:7

„Wenn von allen Seiten Kreissägen auf dich zufliegen, bistdu in der Realität“

von MATTI LIESKE

Die Szene, die sich kurz vor Schluss der Super Bowl XXXV im Raymond James Stadium von Tampa an der Seitenlinie der Baltimore Ravens abspielte, hatte durchaus Symbolcharakter. Erst wurde Chefcoach Brian Billick von seinem Spieler Sharpe umarmt, kurz darauf näherte sich der Kollege Sharper und tat dasselbe. Fehlte bloß noch ein Mister Sharpest, und das Spiel der mit 34:7 gegen die New York Giants siegreichen Ravens wäre perfekt beschrieben gewesen.

Kandidaten für den Titel des Schärfsten aller Scharfen gibt es durchaus, und komischerweise heißen alle Lewis. Da wäre Jermaine Lewis, der im dramatischsten Moment des Matches die einzigen Punkte der Giants durch einen Kickoff-Return 18 Sekunden später auf dieselbe Weise konterte und die Hoffnungen der New Yorker damit endgültig begrub. Da wäre Jamal Lewis, der erste Rookie in der NFL, der in einem Finale 100 Yards erlief und seine Leistung mit einem Touchdown krönte. Marvin Lewis, Koordinator der berüchtigten Raben-Abwehr. Und natürlich Ray Lewis, der allgegenwärtige Middle Linebacker, im letzten Jahr noch des Doppelmordes angeklagt, inzwischen freigesprochen und jetzt zum besten Spieler der Super Bowl gewählt. Lewis war erst die siebte Defensivkraft, der solche Ehre widerfuhr, in diesem von den Abwehrreihen geprägten Match konnte es allerdings auch gar nicht anders kommen. Es war tatsächlich die merkwürdige Partie, die alle erwartet hatten. Höchst selten gelang es beiden Teams, die 10 Yards für einen neuen First Down zu überwinden, dafür wurde mit 15 Punts ein neuer Super-Bowl-Rekord aufgestellt. Laufversuche wurden im Keim erstickt, Pässe in Serie verhindert und die Quarterbacks permanent von heranschwebenden Nilpferden mit Sturzhelm begraben. Doch während sich Giants-Quarterback Kerry Collins vier folgenschwere Würfe zum Gegner leistete, konnte sein Widersacher aus Baltimore derartige Missgeschicke vermeiden. Wie meist waren Trent Dilfers Statistiken am Ende bescheiden, wie meist hatte sein Team gewonnen – zuletzt elf Partien in Serie.

„Er lässt die Abwehr ihre Arbeit machen und steht nicht im Weg“, fasst der 75-jährige Ravens-Besitzer Art Modell die Qualitäten seines Spielmachers zusammen. „Ich bin glücklich, der Quarterback der Mannschaft zu sein, die trotz ihres Quarterbacks Champion ist“, nennt es sarkastisch der Betroffene selbst. Dilfer warf zwar einige obskure Pässe und verfehlte einmal um ein gutes Stück einen Receiver, der völlig freie Bahn hatte, aber er tat, im Gegensatz zu Collins, nichts Dummes und zauberte im ersten Viertel einen hübschen Touchdown-Pass über 38 Yards in die Arme von Brandon Stokley. So etwas reicht den Ravens normalerweise, schließlich ließen sie in vier Play-off-Matches nur 23 gegnerische Punkte zu. „Als wir 7:0 geführt haben, war es vorbei“, sagte Tight End Shannon Sharpe.

Die New Yorker Angreifer kamen sich die meiste Zeit vor, als seien sie in einen jener Wirbelstürme geraten, die Floridas Küsten häufig heimsuchen. „Wir haben unglaubliches Talent auf der defensiven Seite des Balles“, drückt es Coach Brian Billick sternenkriegerisch aus, „ich glaube nicht, dass sie vorher wussten, was auf sie zukommen würde.“ Das kann Giants-Trainer Jim Fassel nur bestätigen: „Sie sind schneller und wendiger, als sie im Fernsehen aussehen.“ Quarterback Kerry Collins musste zugeben, dass er „verwirrt“ war, ein Zustand, für den Ravens-Abwehrchef Ray Lewis vollstes Verständnis aufbringt: „Wenn von allen Seiten Kreissägen auf dich zufliegen, bist du in der Realität angekommen.“

Die Diskussionen, ob Baltimore tatsächlich die beste Defense aller Zeiten besitzt, ist eine Seite der Medaille, die andere ist die Hoffnung, dass es mit dieser Art Football bald wieder ein Ende hat. Hätte es nicht die packenden 36 Sekunden im dritten Viertel gegeben, der aufregendste Teil des Abends wäre der Halbzeit-Auftritt von Aerosmith-Sänger Steven Tyler als NSYNC-Boygrouper geblieben. Plötzlich aber waren die 72.000 im Stadion, die Entertainment im Football-Gewand gar nicht mehr erwartet hatten, wie elektrisiert. Erst fing Duane Starks einen Pass von Collins ab und verwandelte ihn prompt in einen Touchdown – das endgültige Aus für New York, dachte jeder. Doch dann nützte Ron Dixon den Umstand, dass beim anschließenden Kickoff nicht die Ravens-Abwehrrecken um Ray Lewis auf dem Feld standen, sondern das Spezialteam, das seinen Job lausig erfüllte und Dixon einen 97-Yards-Lauf zum 7:17 gestattete. Hoffnung für die Giants, Hoffnung auf ein doch noch spannendes Match keimte auf, doch Jermaine Lewis machte mit seinem postwendenden Run über 84 Yards alles wieder zunichte. „Der emotionale Flip-Flop muss verheerend für sie gewesen sein“, mutmaßt Coach Billick. Den Rest erledigte seine Superabwehr, die die Giants nicht einmal in die Nähe der Ravens-Endzone ließ.

„Wir haben Rekorde nicht nur gebrochen, sondern zerschmettert“, sagt Ray Lewis und insistiert, dass Defense zumindest ihm und seinem Team „eine Menge Spaß macht.“ Wie der Spaß weitergeht in Baltimore, bleibt abzuwarten. Sicher scheint, dass der Architekt des Raben-Wunders und Meister der Destruktion, Abwehrkoordinator Marvin Lewis, die Früchte seiner Arbeit erntet und Chefcoach bei einem anderen NFL-Team wird, möglicherweise in Cleveland oder Buffalo. Schlechte Nachrichten also für Football-Ästheten: Defense gewinnt nicht nur Meisterschaften, sie ist auch noch ansteckend.

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