Rausgehen in Corona-Zeiten: Plötzlich so schön franzosenhousig
Raus aus der Wohnung, aber wohin? Selbst die Kanäle der Stadt sind plötzlich voll. Ärger staut sich an. Entspannung zu finden, wird schwer.
W as immer geht nach einem weiteren Tag, an dem außer ein paar Stündchen Kita für das eine und ein paar Minütchen Schule für das andere Kind, außer Spielplatz, LPG und Eisbude nichts gegangen ist und die Zukunftsängste das Maß des Erträglichen überschreiten (bitte, politische Entscheider*innen, öffnet die Schulen und die Kitas für den Ganztagsbetrieb, wir können nicht mehr!), ist der abendliche Gang. Die neuen Turnschuhe standen bei Karstadt im Sale herum, federn aber trotzdem ganz wunderbar. Mindestens die kleine Park-Runde. Dann mal sehen, ob noch Lust, am Kanal Slalom zu laufen um die mit Pizzakartons Flanierenden.
Die Luft ist warm, das Gras schon wieder braun, die Leute sind draußen, wo auch sonst, die Krisenhelfer gondeln so herum. Einer, der eine Art Mentor der jüngsten Ankömmlinge aus Afrika zu sein scheint, führt unter viel Hallo seinen sonnengelb-schwarz gemusterten Boubou und die aus dem gleichen Stoff gefertigte Gesichtsmaske vor.
Eine alleinerziehende Mutter sucht per Aushang eine bezahlbare Wohnung für sich und ihren Sohn. Aus ihrer jetzigen Wohnung muss sie raus und will im Kiez bleiben, wo Kita, Freund*innen und Nachbar*innen sind. Man kann Zettelchen mit ihrer Telefonnummer abreißen. Bislang sind alle noch dran. Einzelne Nachtigallen singen, wahrscheinlich die, die hoffnungslos einsam geblieben sind.
Die Menschen verlegen sich aus Einsamkeit und Langeweile nun aufs Schlauchboot. Gebannt stehe ich auf der Kanalbrücke und bestaune die Myriaden entblößter Oberkörper, die da lazy durch die Brühe treiben, sich zuprosten und ihre Gummihäute berührungsunscheu aneinanderbumsen lassen.
Partygeilheit als politischen Protest ausgegeben
Am Sonntag „demonstrierten“ sie vor dem Urban-Krankenhaus (!), an einen der Kähne war ein Laken geknotet, „I can’t breath“ (sic) stand darauf. Widerwärtig, wie sie einen so überwältigend grauenvollen und folgenreichen Tod locker-flockig missbrauchten, um ihre akute Partygeilheit zu politischem Protest zu adeln.
Gestern Nachmittag radelten wir zum Tempelhofer Feld. Mal wieder. Die Steuer mache ich erst dann, wenn mir keine Kinder mehr quer über die Belege trampeln, liebes Finanzamt. Als Erstes wollen die Kinder zum Eiswagen am Eingang Oderstraße und dann mit dem Eis auf den kleinen Ausguckturm. Da oben stehen aber schon drei Iren mit verspiegelten Sonnenbrillen und Bier und wollen nicht weichen, sie rülpsen gebietsmarkierend herum und konversieren ungerührt darüber, dass man auf Deutsch als Erstes die Wörter „dicke Titten“ und „fetter Arsch“ lernen müsse.
In meinem Kopf braut sich ein Sermon zusammen, der sich gleich entladen wird. Berlin would be better off without you numb, prepotent, misogynic sweethearts!
Das Kind wittert die nahende Ärgerventilation und fleht mich an, den Mund zu halten. Es schämt sich immer so schnell. Ich hoffe, es begreift bald, dass die Scham es zur Wasserträgerin des Systems macht, das es knebelt.
Skateranlage Vogelfreiheit
Aber da baut direkt vor uns Dorian Goetsch aka Gray Contrast sein mobiles Live-Rave-Instrumentarium auf, Synthie, Effektgerät, Sampler. Und es ist plötzlich so schön franzosenhousig und friedlich, dass der Ärger verpufft.
Wir finden dann noch die Skateranlage Vogelfreiheit, einen Ort, den wir noch nie gefunden hatten. Auf der Infotafel steht, diese „Skateskulptur wurde aus eigens zu diesem Zweck sichergestellten Granitplatten vom ehemaligen Palast der Republik errichtet“. Der gute, alte Palast. Jetzt berollern junge Leute seinen Boden, während die Geschichtsklitterer ein paar Kilometer weiter Kreuze auf seinen hohnlachenden Nachfolger pfropfen.
Manches ist also schlecht, das meiste aber immer noch gut an unserer Stadt. Lockere Wattewölkchen vor der Bahlsen-Fabrik und das Feldlerchen-Zwirbeln von oben gehören zu Letzterem.
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