: „Ratzfatz sauber“
■ Hamburger Behinderte protestieren gegen neue Pflegeversicherung / Morgen Demo Von Patricia Faller
„Gegen eine Ratzfatz-Satt-und-Sauber-Versorgung“ nach der neuen Pflegeversicherung wollen morgen Hamburger Behinderte protestieren. Das ,Jahrhundertwerk' Pflegeversicherung entpuppe sich mehr und mehr als massiver Angriff auf die soziale Absicherung und die Lebensqualität behinderter Menschen, heißt es in einem Demo-Aufruf des Behindertenvereins „Autonom Leben“. „Behinderte kommen selten auf die Idee, sich zu wehren“, erklärt Vereinsmitglied, Gerlef Gleiss, „doch jetzt reicht's.“
„Hamburg ist die Stadt, in der die meisten Pflegeversicherungsanträge abgelehnt und die wenigsten Bedürftigen in die höchste Pflegekategorie eingestuft werden“, berichtet Gleiss, der selbst im Rollstuhl sitzt. Er weiß von Querschnittsgelähmten, die bisher ein Höchstpflegegeld von 1031 Mark erhielten und jetzt nicht mal mehr in die unterste Pflegekategorie eingestuft wurden. Denn im strengen Sinne sind sie nicht pflegebedürftig, ebensowenig wie viele geistig Behinderte. Sie können sich – wenn auch unter großen Anstrengungen – selbst helfen. Gleiss' Ansicht nach müßte der Behindertenbegriff weiter gefaßt werden, als es das Pflegeversicherungsgesetz tut. Denn genauso wichtig wie die pflegerischen Hilfen seien soziale Leistungen. Wenn ein Behinderter beispielsweise Begleitung zur Arbeit oder ins Kino brauche, dann sollte auch das finanziert werden.
Ein weiteres Manko sei, daß die Besitzstandsregelung in Hamburg noch nicht greife. Danach sollte kein Behinderter weniger Geld zur Verfügung haben als vor der Pflegeversicherung. Mitte August hatte die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales das zwar beschlossen, doch die Sozialämter kämpfen noch mit der EDV-Umstellung. „Im Laufe des Novembers hoffen wir, das Problem im Griff zu haben“, heißt es beispielsweise beim Sozialamt des Bezirks Mitte.
Eine Argumentation, die Gerlef Gleiss ärgert: „Die Ämter wissen gar nicht, was das für die Betroffenen bedeutet.“ Einige Behinderte hätten seit April über 1000 Mark im Monat weniger zur Verfügung, weil die Pflegeversicherung nur für die rein pflegerischen Hilfen zahlt und das Sozialamt für den Rest nicht aufkommt. Viele müßten sich deshalb verschulden oder ihre Hilfskräfte entlassen.
Doch neben der finanziellen Verschlechterung sind vor allem auch Errungenschaften wie mehr Selbstbestimmung und soziale Integration gefährdet. So gab es bisher die Möglichkeit, daß Behinderte als Arbeitgeber ihre Hilfskräfte selbst aussuchten und beschäftigten. Mit der Pflegeversicherung ist das passé, weil deren Pflegesätze dafür nicht ausreichen. Sollte sich der Behinderte für die Sachleistungen entscheiden, dann kann er sich seine Helfer nicht selbst auswählen.
Den Betroffenen rät Gleiss, auf jeden Fall Widerspruch gegen Bescheide vom Sozialamt einzulegen, die sie schlechter stellen. Klagen sollten sie auch gegen die Begutachtung. Denn es bestehe berechtigte Hoffnung, so Gleiss, daß die Sozialgerichte den Behindertenbegriff weiterfassen würden.
Demo-Treffpunkt: morgen, 16 Uhr, U-Bahn Hamburger Straße
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