Rassistische Attacke auf Dreijährigen: „Die Hemmschwelle sinkt“

Sabine Seyb von der Opferberatungsstelle Reach Out über rassistische Angriffe auf Kinder und was die Gesellschaft dagegen tun kann.

Zu sehen ist ein Ausschnitt einer nach oben gestreckten, geballten Faust. Der Hintergrund ist verschwommen.

Für Betroffene einstehen ist essenziell in der Bekämpfung von strukturellem Rassismus Foto: dpa/David Young

taz: Anfang der Woche wurde ein dreijähriges Kind in Zehlendorf von einer Frau mit wohl rassistischer Motivation körperlich angegriffen. Passiert so etwas öfter?

Sabine Seyb: Wenn wir unsere Statistik anschauen, beobachten wir eine erschreckende Kontinuität von rassistischen Angriffen auf Kinder und Jugendliche. Von Anfang 2018 bis Ende Juni 2022 haben wir 170 Fälle registriert, in denen Kinder von rassistischer Gewalt betroffen waren. Im selben Zeitraum waren 101 Jugendliche betroffen. Dann gibt es auch die Taten, bei denen Kinder dabei sind und zuschauen müssen, wenn ihre erwachsenen Begleitpersonen von rassistischer Gewalt betroffen sind. Das waren im gleichen Zeitraum etwa 64 Kinder. Die psychischen Folgen sind für die Kinder und Jugendlichen und für ihre Familien häufig schwerwiegend. Die Betroffenen erleben die Angriffe oft als besonders traumatisch, weil Pas­san­t*in­nen meistens nicht eingreifen und helfen.

Warum nicht?

Zum einen gibt es Menschen, die rassistisch sind und Vorfälle, die sie beobachten, als “nicht schlimm“ einordnen oder sogar offen zustimmen. Dann gibt es aber auch jene, die vielleicht nicht einschreiten, weil sie selber Angst haben. Es gibt aber immer eine Möglichkeit einzuschreiten und Hilfe zu holen, ohne sich selbst zu gefährden.

Mitbegründerin der Beratungsstelle ReachOut für Betroffene von rassististischer, antisemitischer und rechter Gewalt und Bedrohung.

Woher kommen die Zahlen?

Wir beobachten systematisch die Medien und Polizeipressemeldungen, um von Fällen zu erfahren. Zum anderen informieren uns auch unsere berlinweiten Netzwerke und Ko­ope­ra­ti­ons­part­ne­r*in­nen in den Bezirken über Angriffe. Zudem wenden sich ja die Betroffene auch direkt an uns, weil sie Unterstützung brauchen. Auch mit den Berliner Registern, die extrem rechte, rassistische, antisemitische, antifeministische, LGBTIQ*-, obdachlosen- oder behindertenfeindliche Fälle dokumentieren, tauschen wir uns aus.

Woran liegt es, dass so häufig Kinder betroffen sind?

Das ist eine Entwicklung, die wir über die letzten Jahre konstant beobachten können. Das Problem ist, dass die Hemmschwelle der An­grei­fe­r*in­nen sinkt. Wir reden ja hier nicht in erster Linie von Neonazis, die solche Taten verüben, sondern eben von Personen, die rassistisch denken und ihre Überzeugung quasi im Vorbeigehen auch gewalttätig äußern. Die Tä­te­r*in­nen wiegen sich in Sicherheit, was ja leider zu oft zutrifft, weil eben niemand eingreift und sie nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Woran liegt das?

Es ist wichtig, das Problem im Zusammenhang mit institutionellem Rassismus zu sehen. Solange Intitutionen und politisch Verantwortliche rassistisch sprechen und handeln, Menschen diskriminieren und ausgrenzen, lassen sich die Taten auf der Straße kaum verhindern. Je konsequenter und klarer beispielsweise Po­li­ti­ke­r*in­nen auf rassistische Taten reagieren und Solidarität mit den Opfern zeigen, desto höher die Chance, dass die An­grei­fe­r*in­nen sich in ihrem Handeln nicht länger ermutigt fühlen können. Dazu gehört auch eine konsequente Strafverfolgung, bei der die Motive solcher Taten ermittelt, als strafverschärfend gewürdigt werden und vor allem den Betroffenen geglaubt wird. Das gleiche gilt natürlich für Päd­ago­g*in­nen und Leh­re­r*in­nen in den Umfeldern der betroffenen Kinder. Würde eine klare Kante gezeigt werden, gäbe es nicht so eine niedrige Hemmschwelle.

Was muss passieren, um die Situation für Betroffene zu verbessern?

Einerseits müssen beispielsweise Leh­re­r*in­nen und Er­zie­he­r*in­nen für Rassismus sensibilisiert werden. Sie müssen Stellung beziehen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und eben nicht wegschauen, schweigen oder das Problem herunterspielen. Es passiert noch viel zu oft, dass Betroffenen nicht geglaubt wird oder Menschen im Umfeld einfach wegschauen. Am wichtigsten ist aber das Zeu­g*in­nen eingreifen und sich solidarisch in den Situationen zeigen. Macht ein Kind die Erfahrung eines rassistischen Übergriffes und niemand schreitet ein, ist das Weltbild des Kindes oft zutiefst erschüttert und das Grundvertrauen in ihre Umwelt zerstört. Schreitet aber eine erwachsene Person ein, können Kinder ein so schreckliches Erlebnis besser verarbeiten.

Was raten Sie Betroffenen?

Es ist wichtig, dass Betroffene und ihre Angehörigen Unterstützung und Beratung in Anspruch nehmen können. Sei es bei uns, bei der psychologischen Beratung von OPRA oder auch in den eigenen Netzwerken und Communities. Zudem gibt es speziell für Kinder mit Rassismuserfahrungen und deren Eltern das Projekt PowerMe. Ziel des Projektes ist es, die Kinder im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung zu begleiten und zu stärken.

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