■ Die Union und die Grundrechte der Petrijünger: Rassismus im Brassentümpel
Berlin (taz) – Dem Kanzler verschlägt es die Sprache. Durch die Menschenmenge in der ostdeutschen Kleinstadt, die ihn zunächst mit frenetischem Applaus und rhythmischen „Hel-mut, Hel- mut!“-Rufen empfangen hatte, bahnt sich ein Mann seinen Weg. Sein Gesicht ist schwer zu erkennen unter einem großen olivgrünen Hut, seine Beine stecken in dicken Gummihosen, die ihm bis unter die Achseln reichen. Mit beiden Händen hält der Mann eine Angelrute umklammert, und wild damit rudernd schiebt er sich bis direkt unter die Tribüne des Kanzlers. „Herr Kohl“, ruft der Mann atemlos, „Herr Kohl, wie stehen Sie zum Angeln als Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger?“ Der Kanzler schiebt den mit Mistmaden bestückten Haken zur Seite, den ihm der Mann provozierend unter die Nase hält, und wirft hilfesuchende Blicke auf Peter Hintze, der hinter ihm steht. Der blättert hastig suchend im CDU- Wahlprogramm. „Herr Kohl“, droht der Mann mit sich überschlagender Stimme, und in seinem Rucksack piept aufgeregt ein elektronischer Bißanzeiger, „wir Angler sind auch Wähler!“
Dem Kanzler fällt zum Grundrecht auf Angeln genausowenig ein wie zum Verbot der Setzkeschernutzung. Um die Situation zu retten, tritt der Generalsekretär ans Mikrophon. Die Union trete immer für die Grundrechte aller Bürger ein, Fischerei sei aber Landessache. „Winde dich nicht raus!“ ruft der Mann mit der Angelrute und zieht seinen Aaltöter. Kohl stürmt mit geballten Fäusten auf den Mann los, diesmal will er es besser machen als damals in Halle. Ein gut gezielter Drillingshaken am Stahlvorfach bringt den Kanzler zur Strecke. Schließlich kann der Angler überwältigt werden, mehreren Sicherheitsbeamten müssen in der Notaufnahme Ködernadeln herausoperiert werden.
Der Mann kommt in Haft und wird neben Körperverletzung und Landfriedensbruch auch noch des unerlaubten Waffenbesitzes beschuldigt, als bei ihm eine Zwille und kiloweise Geschosse gefunden werden. Seinen Beteuerungen, es handele sich lediglich um eine Anfütterschleuder und seinen Köderbeutel voller „Karpfenboilies“ mit Erdbeergeschmack, schenkt der Haftrichter keinen Glauben.
Die Geschichte hätte sich durchaus so zutragen können, denn in den letzten Tagen hat der (ursprünglich ost-)deutsche Angelverband e.V. (DAV) ein Schreiben an seine Mitglieder verschickt, in dem es um das Verhalten der angelnden Wähler gegenüber ihren Politikern geht. „Fragen wir sie“, heißt es da, „wo immer sie sich ihren potentiellen Wählern stellen, wie sie und ihre Parteien zum Angeln stehen und vor allem, wie konkret sie in ihrem zukünftigen Verantwortungsbereich die Interessen der Angler vertreten werden.“
„Was halten Sie von der Abforderung von Gesamtanglerjahresangelstunden wie in Entwürfen zur Gewässerverpachtung in Mecklenburg-Vorpommern?“ läßt der DAV seine Mitglieder fragen. Und nahezu fischereirassistische Verwerfungen wirft der Verband den zuständigen Behörden in Nordrhein-Westfalen vor, die den artfremden Besatz einiger Gewässer mit Aalen, Karpfen oder Regenbogenforellen per Verordnung verbieten wollen. Das heißt „Ausländer raus!“ im Brassentümpel!
„Denken Sie daran, liebe Anglerinnen und Angler, jeder Politiker verspricht heute gern viel, denn die Stimmen der Angler (drei Millionen plus Angehörige) zählen viel in diesem Wahljahr!“ So warnt der DAV die Petrijünger vor der Leichtgläubigkeit. Der Mann in den langen Gummihosen aber sitzt in Haft. Auf Vermittlung des DAV hat er jetzt was zu lesen. Blinker, Fisch und Fang, Deutsche Anglerwoche. Und die taz. Bernd Pickert
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