Radrennen: Vor dem Besenwagen ins Ziel
10.000 Hobbyradler rasen beim ersten Berlin-Velothon über die Straßen. Viele haben teure Hightechräder und Ehrgeiz wie die Profis. Jedermannrennen dieser Art liegen im Trend: Sponsoren suchen Alternativen zum dopingverseuchten Profisport.
Leicht irritiert beobachtet Michael Schmidt* das Geschehen um sich herum. Mit seinem schlichten Stadtfahrrad steht er an diesem Sonntagmorgen um halb neun vor dem Brandenburger Tor. Er mustert die Konkurrenz, die mit ihren Hightechrädern langsam an ihm in Richtung des Startbereichs vorbeirollt. "Guck dir mal diese schmalen Reifen an", bricht es aus ihm heraus. "An dem Rad ist ja die Trinkflasche das Schwerste!"
Die Besitzer der schicken Rennräder tragen sogenannte atmungsaktive Trikots - zumeist in grellen Farben: Neongelb, Quietschorange oder Schrillgrün, wie die Profis. Schmidt hat ein abgetragenes altes graues T-Shirt an. "Eigentlich ist das ja als Jedermannrennen ausgeschrieben worden", echauffiert sich der Mittdreißiger. Mit seinem schweren Drahtesel komme er sich hier schon etwas komisch vor, sagt er. Als einer von 10.000 Teilnehmern hat er sich in den letzten Tagen in einem Kaufhaus in die Starterliste für diese Berliner Premierenveranstaltung, das erste Jedermannrennen mitten durch die Kapitale, eingetragen. Energieriegel hätten sie dort verkauft, berichtet er. "Aber was soll ich damit? Das hilft mir auch nichts."
Schmidt hat sich vorgenommen auf der 60 Kilometer langen Rundstrecke, die vom Brandenburger Tor über den Ku-damm, Steglitz und Friedrichshain führt, eine Viertelstunde vor dem Besenwagen, der die zu langsamen Fahrer aus dem Rennen nimmt, anzukommen. Denn es ist eine Mindestdurchschnittsgeschwindigkeit von zwanzig Stundenkilometern vorgeschrieben. Doch Schmidt gibt sich optimistisch, dass er es schaffen wird. Schließlich, erzählt er, habe er im Vorfeld des Rennens viermal trainiert.
Ganz andere Ziele verfolgen Björn Barth*, Alex Schulze* und Sebastian Wohlauf*. Sie trainieren regelmäßig beim Radsportverein Bernau. Sie fahren etwa 7.000 Kilometer pro Jahr. Beim ersten Berlin-Velothon, bei dem sie sich wie die Mehrheit für die 105-Kilometer-Distanz entschieden haben, wollen sie unter die ersten hundert kommen. Eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 41 Stundenkilometern wäre nötig, denken sie. "Am meisten fürchten wir uns vor Stürzen", sagt Barth. Wegen der flachen Strecke in Berlin werde das Rennen nämlich sehr schnell.
In der Tat tauschen sich die ambitionierten Hobbyfahrer dann hinter dem Zielstrich über etliche Stürze, die sie auf der Fahrt durch die Hauptstadt gesehen oder miterlebt haben, aus. Jens Müller* aus Hannover, der unter den ersten hundert eintrifft, hat auf seiner Fahrt vier gezählt. "Das gehört zum Risiko, wenn man hier teilnimmt", erläutert er nüchtern. Allerhöchste Konzentration sei beim Fahren erforderlich. Dass die Veranstalter mit ihrer "attraktiven Streckenführung durch die pulsierende Metropole" werben, findet der Pedaleur deshalb eher amüsant. "Von Berlin habe ich heute nichts gesehen."
Besonders ärgerlich findet Müller die Zusammenführung der gemächlichen Kurzdistanzfahrer mit den schnellen Radlern der Langstrecke auf dem Schlussabschnitt. Hier sei die Unfallgefahr besonders groß gewesen. Für Beschaulichkeit haben ehrgeizige Amateure kein Verständnis. Vom Profisport haben sich aber die Organisatoren ganz bewusst abgegrenzt. Endlich sei einmal nicht von Doping die Rede, schwärmte am Sonntag der Mann am Mikrofon über seine eigene Veranstaltung.
Jedermannrennen haben Konjunktur in Europa. Knapp zwanzig neue Veranstaltungen dieser Art werde es in diesem Jahr in Deutschland geben, schätzt Hendrik Heinz, der Pressesprecher der Eventagentur Upsolut, die den Velothon in Berlin aus der Taufe gehoben haben. "Nach den Dopingskandalen tun sich die Sponsoren hier leichter", bemerkt er. Upsolut ist ebenfalls Veranstalter der "Cyclassics" in Hamburg, des mit 22.000 Radlern national bislang größten Jedermannrennens. Laut FAZ nimmt der Veranstalter in der Hansestadt jährlich mehr als eine Million Euro ein. Ein einträgliches Geschäft. In diese Dimensionen und darüber hinaus würde man bei Upsolut gerne auch in Berlin vorstoßen. "Vielleicht gehört die Veranstaltung ja bald zu den weltweit größten Radsportevents", sagt Heinz. Eine Neuauflage des Velothon "mit viel, viel mehr Teilnehmern" für das nächste Jahr wurde am gestrigen Sonntag über Lautsprecher angekündigt.
Vielleicht kommen dann auch mehr Zuschauer. Die vom Veranstalter geschätzte Zuschauerzahl von 250.000 dürfte recht hoch gegriffen sein. Robert Bartko, der einzige Profi im Teilnehmerfeld, der als Zugpferd des 60-Kilometer-Rennens verpflichtet wurde, stellte nach seiner Zieldurchfahrt fest: "Berlin war heute noch ein bisschen verschlafen." An vielen Stellen sei es recht leer hinter den Barrikaden gewesen.
Nächsten Sonntag bei der traditionellen Berliner Sternfahrt wird es auf den Straßen der Stadt wesentlich beengter zugehen. Eine Viertelmillion Menschen soll dann ins Zentrum radeln. Allerdings werden diese Pedaleure nicht auf Geschwindigkeit achten. Sie demonstrieren für einen sichereren und attraktiveren Fahrradverkehr.
*Name geändert
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