RUSSLAND MORDET IN TSCHETSCHENIEN – UND DIE WELT SCHAUT WEG: Grauen mit Gewöhnungseffekt
Bis zu 80 getötete tschetschenische Männer in jedem Monat und eine eindringliche Warnung, Flüchtlinge aus der Kaukasusrepublik keinesfalls in ihre Heimat zurückzuschicken: So lautet das Fazit der Menschenrechtsorganisation International Helsinki Federation for Human Rights, die jetzt das Drama drei Tage vor Ort besichtigte. Eine Nachricht im eigentlichen Sinne ist das leider nicht mehr, sondern vielmehr eine Fortsetzung der Chronologie des Grauens, die für die Menschen in Tschetschenien seit dem Einmarsch russischer Truppen Ende 1999 Alltag ist. Nicht zuletzt deshalb schaut nach Tschetschenien, mit Ausnahme einiger standhafter in- und ausländischer Kämpfer für Menschenrechte, kaum noch jemand. Die Zeit arbeitet eben für die Schlächter, und der Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekt ist längst eingetreten.
So dürfte auch der jüngste Bericht der Helsinki Federation an den Gegebenheiten wenig ändern und der Appell weitgehend ungehört verhallen. Denn seit dem 11. September vergangenen Jahres heiligt der weltweite Kampf gegen den Terror so genannter militanter Islamisten jedes Mittel: Seien es Dutzende Dorfbewohner, die Anfang Juli im südlichen Afghanistan Opfer von „versehentlich“ abgeworfenen US-Bomben wurden. Sei es den Einsatz von Bomben auf bewohnte Palästinensergebiete, wobei der Tod von Frauen und Kindern billigend in Kauf genommen wird. Und seien es die mit dem zynischen Terminus „Säuberungen“ titulierten, generalstabsmäßig durchgeführten Razzien in tschetschenischen Ortschaften, bei denen Zivilisten aus ihren Häusern gezerrt, entführt, gefoltert und ermordet werden.
Doch Kritik aus dem Westen ob dieses barbarischen Vorgehens braucht Russlands Präsident Wladimir Putin nicht zu befürchten. Im Gegenteil: Dass sich die Lesart einer „wiederhergestellten Normalität“ in der Kaukasusrepublik auch hierzulande durchzusetzen scheint, belegt der Umstand, dass beispielsweise Deutschland nichts Besseres zu tun hat, als tschetschenische Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder abzuschieben.
Und dennoch: Mittlerweile dämmert es auch Putin, dass sich in Tschetschenien, aller Antiterrorrhetorik und Informationsblockaden zum Trotz, eine Tragödie abspielt. Ob es allerdings möglich sein wird, den Wahnsinn in absehbarer Zeit zu stoppen, ist fraglich. Zur Zeit häufen sich Meldungen, dass die Armee in Tschetschenien demoralisiert, frustriert und in einem sinnlosen Kampf aufgerieben wird und ihrem Kommando zusehends aus dem Ruder läuft. Derweil geht das Morden weiter. Der nächste Bericht ist nur eine Frage der Zeit.
BARBARA OERTEL
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