RANDBEZIRK: Die Zuversicht des Hausmeisters
Im Kieler Stadtteil Gaarden sind die Kneipen schon lange geschlossen und die Sozialstationen eröffnet. Der 69-jährige Bruno Levtzow ist Rentner und hier seit 26 Jahren der Vorsitzende des Ortsbeirats. Er tut, was er kann, das reicht aber nicht.
KIEL taz | Es gibt Vieles in Gaarden, das Bruno Levtzow nicht ändern kann: die Drogenabhängigen vor dem Supermarkt, die Prostitution in den Kneipentoiletten, die Spielhallen. Doch selten ist er so machtlos wie neben dem Trampolin in der Einkaufszone. Schwarze Gummistränge, zu einem Quadrat verwebt, hat das Kieler Jugendamt hier zwischen die roten Pflastersteine des Vinetaplatzes gespannt. Darunter ist ein wenig Luft, damit ein Kind darauf springen kann. An den Laternenpfählen im Umkreis hängen Blechschilder: „Alkoholkonsum im Bereich der Spielgeräte verboten“.
Eine Frau, vielleicht 30 Jahre alt, mit langem Zopf und Bierflasche in der Hand, taumelt auf die Hüpffläche. „Oh, der Bürgermeister!“, ruft sie Levtzow zu. Dann beugt sie sich vor, lässt ihren Kopf zwischen den Beinen baumeln und schielt durch das Gummigitter. Ein Mann, Kapuze auf dem Kopf und Papiertüte in der Faust, macht es ihr nach. „Geld verloren?“, fragt Levtzow. Er weiß: Schilder haben keine Konsequenzen. Hier kann man nur sagen: „Mensch, Leute. Lasst das doch mal vor den Kindern.“
Bruno Levtzow ist 69 Jahre alt und hat sein Leben in Gaarden verbracht. In dem Teil von Kiel, den die Förde und eine Schnellstraße von der Innenstadt trennen. Früher Wohnviertel für Werftarbeiter, ist Gaarden heute der Stadtteil mit den meisten Hartz-IV-Empfängern unter seinen erwerbsfähigen Bewohnern – 42 Prozent – und den meisten Kindern in Armut: 61 Prozent.
Levtzow, weißer Kinnbart, wiegender Gang, ist Rentner. Er ist ein fülliger Mann mit großen Händen und feinen Falten um die Augen. Er hat mal Maurer gelernt und arbeitete später als Hausmeister für die Arbeiterwohlfahrt, trat in die Gewerkschaft ein und in die SPD. Seit 26 Jahren ist er der Vorsitzende des Ortsbeirats. Ein anderer stand nie zur Debatte, sagen seine Genossen. An ihm kommt keiner vorbei, sagt die Opposition. Der Ortsbeirat formuliert Botschaften an die Politiker im Rathaus, auf der anderen Seite der Förde. Ein eigenes Budget hat er auch: 200 Euro in diesem Jahr.
Von seiner Reihenhaustür aus läuft Levtzow eine Viertelstunde bis zum Backkönig in der Innenstadt. Vorbei an den roten Klinkerhäusern, Altbauten mit blätterndem Fensterputz und bunt besprühten Fassaden. Vorbei an dem Haus, wo die Zimmer einzeln vermietet werden. An ganze Roma-Familien, die Ärmsten der Armen. Levtzow fischt seine Klappschachtel aus Plastik aus der Jackentasche und steckt sich die nächste Zigarette an.
Ein Mann mit breitem Kreuz und schwarzer Mütze bleibt vor ihm stehen. „Sicherheit“ steht auf seiner Jacke. „Moin Stefan“, sagt Levtzow. „Was macht die Arbeit?“ „Ist anstrengend“, sagt Stefan. „Stefan, mach’ lieber als Elektriker.“ Der schüttelt den Kopf: „Nä, ich kann nicht mehr zum Bau. Ich hab’ Asthma.“
Gaarden hat sich verändert. Dort, wo früher die Leute nachts in die kleinen Gassen mit den Kneipen drängten, stehen heute Coca-Cola-rote Stehtische vor den Billigbäckern. Junge Männer trinken Kaffee aus Pappbechern und unterhalten sich auf Türkisch. Ein ältere Frau mit wasserstoffblondem Haar hat eine Packung Küchenrollen auf das Trittbrett ihres Rollstuhls gestellt und zieht an ihrer Zigarette.
Zwei Jungen werfen Tauben Stücke ihres Donuts zu. „Ihr wisst schon, dass das verboten ist?“, blafft Levtzow. Taubenkot ist schließlich gefährlich. „Wer ist der denn?“, fragt einer den anderen, als Levtzow drinnen an der Brotschneidemaschine hantiert.
„Wenn ich einkaufen gehe, dann kontrolliere ich“, sagt Levtzow. Rund um den Vinetaplatz gibt es mittlerweile viele, die das auch tun. Drogenhelfer, Schuldenberater, Streetworker, Sozialarbeiter. Parfümerie und Star Palast sind Mehr-Generationen-Haus und Moschee gewichen. Gegen einen dritten Spritzenautomat habe sich der Ortsbeirat gewehrt, sagt Levtzow.
Einmal im Monat ist Sitzung. Seit einigen Jahren gibt es auch hier einen neuen, festen Tagesordnungspunkt: Der Bericht der Stadtteil-Aufwerter vom „Büro Soziale Stadt“. Bezahlt von Bund, Land und Kommune arbeitet dort etwa Anna Neugebauer, City- und Regionalmanagerin, eine Frau mit blondem Pferdeschwanz. Neugebauer sagt Sätze wie: „Kommunikation und der niedrigschwellige Zugang ist für die Annahme von sozialen Angeboten sehr bedeutsam.“
Die Sozialpädagogen – manchmal versteht Levtzow sie nicht. Am Eingang des sozialen Vinetazentrums liegt schon seit Tagen ein Müllbeutel herum. Es kann doch nicht sein, dass hier Sozialpädagogen das Sagen haben und dann sowas, findet Levtzow. Es brauche Vernünftige – die nicht so weltfremd sind. Keine Studierten, aus gutem Hause, die immer sagen: „Überleg’ dir das noch mal.“ Sondern – er ballt die Faust und lässt sie abwärts sausen: „Morgen machst du deinem Kind Frühstück!“
Ein Grund dafür, wie es in Gaarden aussieht, ist die Verbindung in die Kieler Innenstadt. Sie fehlt. Niemand kommt zufällig zum Vinetaplatz. Eine breite Brücke sollte Passanten und Touristen herführen, vom Ufer hoch über die Schnellstraße bis zu den Geschäften. Doch seit elf Jahren führt diese Brücke ins Nichts. Das attraktive Grundstück am Wasser ist verkauft, der Eigentümer insolvent und die Stadt kann nicht weiterbauen. Es gebe keine Einigung, sagt die Stadt. Solange müssen Besucher vom matschigen Bauland aus eine steile Treppe besteigen oder mit einem Aufzug fahren, in dem es nach Urin riecht.
Die einzigen Menschen, die vom anderen Ufer kommen und bleiben, standen dort früher am Hauptbahnhof. Sie stehen jetzt am Eingang eines Supermarkts, dessen gläserne Schiebetüren hinter eigens aufgestellten Bauzäunen und den Schultern eines Wachmanns verschwinden. Es sind blasse Männer mit Kapuzen und schlackernden Hosen. Levtzow redet nicht mit ihnen. Die gehen ja doch nicht weg. Der mit der weißen Haube vertickt seine Drogen.
Eigentlich hat Levtzow nichts gegen die, die in Gaarden auf den Bänken sitzen. Unter den Zweigen eines Baums haben gegen 12 Uhr mittags ältere Männer Platz genommen. Die trinken friedlich ihr Bier. Levtzow hat die Vokabel inzwischen gelernt: „Das ist ein anderer Personenkreis“, sagt er. Es ist ja auch logisch: Als die Leute Geld hatten, waren sie in der Kneipe. Was hat die Wirtin gemacht, wenn einer zu besoffen war? Rausgeschmissen oder die Frau angerufen. Hier draußen passt keiner auf.
Jutta, tiefe Falten im runden Gesicht, zieht einen kleinen Rollkoffer aus Plastik den Bürgersteig entlang. „Moin, Jutta“, dröhnt Levtzow. „Warst du wählen?“ Jutta nickt: „Weißt du, Bruno, ich kann ja noch. Aber meine Nachbarin ist 93.“ Levtzow unterbricht: „Dann ruf mich doch an.“ Ein junger Mann kommt auf die beiden zu, das blonde Haar fällt ihm in die Stirn. „Hallo, hallo!“, ruft er. „Hallo“, sagt Jutta. Levtzow legt seinen kurzen Zeigefinger auf die Lippen und blickt sie an. Beide rühren sich nicht. „Du bist ’ne süße Maus“, sagt der Mann und wankt davon.
„Bürgermeister von Gaarden“, so nennen die Leute hier Levtzow. Vor vier Jahren hat er ein Bundesverdienstkreuz bekommen. Für seine Jugendarbeit, die Stadtteilfeste und die Ferienfahrten über die Arbeiterwohlfahrt. „Im Advent ist er der Nikolaus für die Kleinen“, heißt es in der Begründung, und: „Viele Jahre organisierte er zusammen mit seiner Frau an Heiligabend eine Feier für Alleinstehende.“
Es ist schon spät, nach der Ortsbeiratssitzung ist Levtzow einer der letzten im Mehrzweckraum. Fedor und Thorsten sind noch da, zwei hagere Herren – die CDU-Fraktion. Levtzow hat jedem von ihnen einen kleinen Stapel selbst gedruckte Einladungen in die Hand gedrückt. Für die Veranstaltung am Sonntag, ein Nachmittag für alle im Viertel, dachte er, mit Blechkuchen, gebacken von den ehrenamtlichen Ortsbeiräten. Und Thorsten hat doch so viele Briefkästen, da wo er wohnt. Doch der blickt ihn nur stumm an. Levtzow macht zwei Schritte rückwärts zur Wand. „Ehrlich, bin ich hier der Kasper?“, brüllt er. „Alles mach’ ich hier allein! Unser Stadtteil geht vor die Hunde, wenn wir so weitermachen.“
„Hast du denn die Illusion, dass wir das ändern können?“, fragt Thorsten. „Aber wir können hier doch nicht einfach zugucken“, sagt Levtzow. Die haben ja keine Vorstellung. Für Sonntag hat er ein Mundharmonikaorchester eingeladen. Das kostet auch schon 200 Euro.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen