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GASTKOMMENTARQuo vadis, homo sovieticus?

■ Bis zum 1. Januar 1992 soll die Sowjetunion endgültig abgewickelt werden

Ohne die Kollaboration des vergehenden deutschen Kaiserreichs mit dem revolutionären Kommunismus hätte es die Sowjetunion Leninscher Prägung nicht gegeben. Eisenbahn und Post, nach deutschem Muster sollte der Sozialismus aus dem Boden gestampft werden. Sowjetmacht plus Elektrifizierung; Diktatur verkleidet in aufgeputztem Modernismus — 75 Jahre gefrorene Zeit. An ihrem Ende bescheinigt sich die Sowjetunion mit akribischer Gründlichkeit, ein wenig deutsch, ihren Abtritt von der Weltbühne — das Aus am 1.Januar 1992. Der Vorhang, schwer geworden von Ideologie und Machtphantasien, durchtränkt von Gewalt und verlorener Hoffnung, verdeckt nichts mehr. Elend geworden der Anspruch, Utopien zu verwirklichen. Ein Buch der Geschichte wird geschlossen. Ein Buch der Geschichte wird aufgeschlagen. Wird es erneut geschrieben mit dem Blut der Leidenden? Wird die Gewalt frei, die die Sowjetunion zusammengepreßt hat? Ist Nationalismus die einzige Antwort auf den künstlich verordneten Internationalismus? Das Projekt des bürokratischen Kommunismus verstirbt. Seine staatliche Hülle wird begraben. Aber die Vergangenheit will nicht vergehen. Der homo sovieticus, geboren in die Zeit des gespaltenen Bewußtseins, in der er dem übermächtigen Staat als nichtswürdiger Einzelner schon unterworfen war, bevor er ihm fast rechtlos gegenübertrat, wird er die ungeheure Anstrengung auf sich nehmen, seine eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen? Wird er nicht abstürzen auf dem Grat zwischen demokratischer und nationaler Selbstbestimmung? Wird er Phantasie entwickeln, damit er nicht ertrinkt im Egoismus, der so verständlich wäre, sondern solidarisch mit denen gemeinsam handelt, die in der anstehenden Reform der Ökonomie unterzugehen drohen? Der Vorhang ist gefallen. Hervor treten die neuen Gefahren. Sie können umgearbeitet werden in ein neues Projekt. Die Europäisierung dessen, was einmal die Sowjetunion war, steht an. Sie kann gelingen, wenn wir sie als eine gemeinsame Aufgabe angehen. Gert Weisskirchen

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