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Quittung für verfehlte Sozialpolitik

■ In Berlin–Kreuzberg rächte sich die Mißachtung sozialer Probleme durch den Senat / Berlins Innensenator Kewenig gesteht Polizeifehler ein / Heftige Kritik der SPD an Polizeieinsatz / Autonome üben Selbstkritik / ÖTV über Angriffe auf Arbeitnehmereigentum empört

Aus Berlin Brigitte Fehrle

„Mit Geduld sind die Zustände in Kreuzberg auf die Dauer nicht zu ertragen“, sagte gestern auf einer Pressekonferenz die Kreuzberger Gesundheitsstadträtin Brunhilde Date (AL) zu der Straßenschlacht und den Plünderungen in der Nacht zum 2. Mai. Diese Meinung teilen Kreuzberger Pfarrer, Mitarbeiter von Mieterläden, Sozialarbeiter und die Kreuzberger Alternative Liste. Jahrelang habe der „Ku– Damm–Senat“ versucht, die brennenden sozialen Probleme des Stadtteils herunterzuspielen und zu ignorieren, jetzt werde ihm die Quittung präsentiert, meinte der Kreuzberger Bezirks–Verordnete Volker Härtig (AL). Auch der Pfarrer der Kreuzberger Liebfrauengemeinde, Kliesch, benannte die ungelösten sozialen Probleme und die Ohnmacht der Politiker als Hauptursache für das Maß an Gewalt und Zerstörung, das sich in dieser Nacht entladen hatte. Er wandte sich entschieden gegen die Ankündigung von Innen senator Kewenig (CDU), in Zukunft mit größerer polizeilicher Präsenz und härterer Gangart in Kreuzberg vorgehen zu wollen. „Mit mehr Polizei kann man die Probleme unseres Stadtteils nicht lösen“, warnte Pfarrer Kliesch. Heftige Kritik übte auch der Kreuzberger Baustadtrat Orlowsky (AL) am Vorgehen der Po lizei. Das Straßenfest auf dem Lausitzer Platz sei ohne polizeiliche Vorwarnung und ohne daß man den Leuten die Möglichkeit gegeben habe, wegzugehen, von der Polizei mit Tränengas und Schlagstockeinsatz geräumt worden. Er habe am frühen Abend mehrfach versucht, die Einsatzleitung zur Zurückhaltung zu bewegen, als dies noch Sinn gehabt hätte, sei allerdings auf kein Verständnis gestoßen. Später, als durch das harte Vorgehen die Situation aufgeputscht gewesen sei, hätten sich die Beamten zurückgezogen. Erst dadurch habe es zu diesem Außmaß an Gewalt kommen können. Soziale Probleme sieht auch die Berliner SPD als Ursache der Mai– Nacht. Angesichts der Feierlichkeiten zur 750–Jahr–Feier gebe es bei vielen Berlinern, speziell in Kreuzberg, Unzufriedenheit. „Die im ICC fressen sich voll und wir gehen leer aus“ sei eine weit verbreitete Haltung angesichts der Masse an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern in Kreuzberg. Die Ausschreitungen hätten eine „neue Qualität“ erreicht, die man mit den Begriffen „Gewalttäter und Chaoten“ nicht mehr fassen könne. Fortsetzung auf Seite 2 Große Teile der Kreuzberger Bevölkerung seien an den Zerstörungen und Plünderungen beteiligt gewesen, meinte Momper. Ebenso wie die AL übte er Kritik an der Polizeiführung - allerdings im umgekehrten Sinne. Daß nur 400 Beamte im Einsatz gewe sen seien, zeige das Versagen der Führung, meinte Momper. Er habe große Hochachtung vor diesen Polizisten, die in dieser Lage „verheizt“ worden seien. Später sei für Stunden ein „rechtsfreier Raum“ entstanden. Momper machte dafür die Polizeiführung verantwortlich, die nirgends eingegriffen habe. Die Berliner ÖTV zeigte sich über die Vorgänge in Kreuzberg, bei denen das Eigentum von Arbeitern und Angestellten zerstört worden sei, empört. Selbstkritisch haben Innensenator Kewenig (CDU) und die Berliner Polizeiführung Versäumnisse eingeräumt. Beamte seien nicht schnell genug am Einsatzort gewesen, außerdem hätte sich auch die Kommandostruktur in der Führung der Polizeieinheiten nicht bewährt. Kewenig kündigte „Konsequenzen an“. Eine Bilanz der Nacht haben auch die Berliner Autonomen Gruppen gezogen. In einer von rund 300 Leuten besuchten Vollversammlung am Samstag abend wurde Kritik an einzelnen Vorfällen laut. Der „lang angestaute Haß“ habe dazu geführt, daß manche blind um sich geschlagen hätten. „Wir finden es beschissen, wenn kleine Läden platt gemacht werden“, heißt es in einem Flugblatt, das seit Sonntag in der Stadt verteilt wurde. Es schließt mit der Aufforderung, darauf zu achten, „daß sowas in Zukunft unterbleibt“.

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