■ Querspalte: Ich bin ein Elektriker
Immer wieder hatte Jozef Gaweda in die Geldbörse geguckt. Doch es tat sich nichts. Fünf Jahre lang harrte Gaweda aus. Kein Wunder geschah. Nichts. Gar nichts. Kein einziger Zloty. Langsam dämmerte dem aufrechten Demokraten aus dem südpolnischen Kety die furchtbare Wahrheit. Walesa, Staatsoberhaupt, Nobelpreisträger, polnischer „Mann des Jahres 1995“ – er hatte die Wähler von 1990 betrogen. „Wenn ich siege“, so hatte der Präsidentschaftskandidat versprochen, „wird jeder erwachsene Pole über kurz oder lang 100 Millionen Zloty in seinem Portemonnaie vorfinden.“
Fünf Jahre später: Gaweda nimmt seine Börse, zieht vor den Kadi und klagt das Staatsoberhaupt an. Natürlich bekommt er recht. Die Beweislage ist erdrückend: Das Portemonnaie ist eindeutig leer. Als Gaweda droht, Millionen von Zeugen heranzuschleppen, die das Wahlversprechen Walesas bestätigen können, fällt der Richter sein Urteil im Schnellverfahren: Walesa muß das versprochene Wunder vollbringen. Es darf allerdings eine Nummer kleiner ausfallen. Gaweda will sich mit 10 Millionen alten Zloty zufriedengeben (rund 570 Mark): „Schließlich bin ich Christ und habe ein barmherziges Herz.“ Als der Richter nach getaner Arbeit das Kreisgericht in Gdansk verlassen will, erwartet ihn bereits eine jubelnde Menschenmenge: Millionen Wundergläubige mit leeren Geldbörsen. Über das derzeitige Befinden des Richters liegen noch keine Nachrichten vor.
Walesa hat Berufung gegen das Urteil eingelegt, weil er damit gute Erfahrungen gemacht hat. Auf der Preisverleihung zum „Mann des Jahres 1995“ zog Walesa ein vergilbtes und leicht schmuddelig wirkendes Papier aus der Tasche. Triumphierend hielt er es in die Höhe: „Meine Damen und Herren. Ich bin Elektriker! Sogar mit Diplom.“ Die Staatsanwaltschaft in Warschau hatte wochenlang ermittelt, ob Walesa den Titel „Elektriker“ überhaupt tragen dürfe. Möglicherweise war er ein Schulabbrecher. Und das hätte natürlich ein Großverfahren nach sich gezogen. Gabriele Lesser
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