■ Querspalte: Jesus lebt!
Die Geschichte ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Ob es daran liegt, daß mit jedem Wippernschlag immer mehr davon dazukommt? Daß sich der Berg des Gewesenen immer höher türmt? Und alles dadurch immer undurchsichtiger wird, vielschichtiger, einfach zeit-reicher? Je mehr, desto durcheinanderer, desto unübersichtlicher also. Früher las man in Lexika, Geschichts- oder Schulbüchern einfach nach, was 14/18 war oder wann die gereimte Keilerei bei Issos und wann Kleopatra herumintrigiert hatte. Heute kommen Forscher daher und sagen uns, daß Karl der Große, der wüste Sachsenschlächter, nie gelebt hat, sondern allein eine Erfindung frühmittelalterlicher Gelehrter war, und die ganze Zeitrechnung um knapp 300 Jahre zurückgebastelt werden muß, wir somit erst im Jahr 1699 leben. Immerhin nach Christi Geburt, also wie gehabt.
Doch schon kommt der nächste kluge Gestern-Forscher. Brite ist er, heißt Laurence Gardner und behauptet nach Studium der Schriftrollen von Qumram, Christus sei – ha, ha – 7 v. Chr. geboren, die ganze Kreuzigungsstory nett ausgedachter Mumpitz, die österliche Beerdigungs- und Auferstehungssaga nix als Strunx, und statt gen Himmel zu sausen, habe der Chefsohn incognito mit Frau M. Magdalena sehr irdisch herumgevögelt und hier herunten muntere drei Kinder gezeugt. Somit lebten, heureka!, Jesussens Ururururnachkommen noch heute mittenmang unter uns. Jesus als Scharlatan entlarvt, als Lügner und Aufschneider, als früher Felix Krull – das ist sehr beruhigend. Eine Gottesfigur weniger macht zumindest die Kirchengeschichte übersichtlicher. Auf einen Erlöser brauchen wir nicht mehr zu warten, wenn er per knapp 1.700- oder 2.000jährigem Gentransfer schon in uns allen drin ist. Die Bibel lesen wir, jetzt mit forscherischen Weihen, endlich als das, als was wir sie immer schon ansahen: als Märchenbuch. Nur: Wann ist eigentlich der rauschebärtige Papa von diesem ungekreuzigten Hochstapler geboren und wann nicht? Forscher, forscht weiter! Bernd Müllender
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen