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■ Querspalte1:0 für den Osten

Allerorten ist von den kleinen und großen Mühen der Vereinigung die Rede. Die eigentlichen Verlierer der Einheit, die West-Berliner, dagegen hat man vergessen. Während verständnisinnig überall die Nöte erniedrigter Ostler thematisiert werden, verliert man kein Wort über den Untergang des Inselstaats.

Das ist ungerecht. Während sich die Ost-Berliner frohen Sinnes amüsieren und selbst die Kräne am Potsdamer Platz keck zur Neunten herumschaukeln, werden die gelernten Ex-Inselstädter immer trostloser. Manchmal trinken sie wie Harald Juhnke und beginnen von alten Zeiten zu erzählen. Damals war's, doch niemand mag zuhören. Man macht sich lustig über die Ex-Frontstädter.

Von frohlockenden Ostlern mit kesser Rede („urst schau“) in die Ecke getrieben, unbeachtet von den Medien, flieht der West-Berliner ins Private. Doch auch da winkt kein Glück. „Nirgendwo haben Menschen mehr Angst vor dem Zerbrechen ihrer Ehe, ihrer Liebe“, „niemand fürchtet sich mehr vor dem Zerbrechen einer Beziehung als die West-Berliner“, hat eine Studie der R+V-Versicherung herausgefunden. „Deutscher Rekord!“ jubelt höhnisch die Bild-Zeitung.

Die Erklärung, die der Diplompsychologe Hans-Dieter Spille (53) gibt, ist charmant dialektisch: Die von der Konsum- und Freizeitgesellschaftspropaganda verunsicherten Westler hätten so große Verlustängste, weil sie ängstlich „ihren Job mit nach Hause tragen“ und, statt ganz spontan zu genießen, ihr „Privatleben bis zum Kinobesuch“ organisieren. „Da bleibt kaum Zeit für Zwiegespräche über Sehnsüchte und Probleme.“ Die angeblich so staats-, arbeits- und betriebsfixierten Ost-Berliner seien dagegen angstfreier, weil sie ganz unutopisch gelernt hätten, „Arbeit und Privates“ zu trennen. Interessant, interessant und 1:0 für den Sozialismus, der seine Bürger so gut auf die Zumutungen des Kapitalismus vorbereiten konnte. Möglicherweise wären die kapitalistisch geschulten Westler dagegen die besseren Kommunisten. Detlef Kuhlbrodt

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