■ Querspalte: Alles ist Kultur
Insider wollen ja wissen, daß schon in einem handelsüblichen 200-Gramm-Joghurtbecher mehr Kultur (gleich, ob links- oder rechtsdrehend) stecke als in einer durchschnittlichen Ausgabe des Tagesspiegel. Das kann so nicht weitergehen, wird man sich dort gesagt haben, wir müssen unsere Zeitung fit fürs nächste Jahrtausend und zur Hauptstadtzeitung machen und dazu unbedingt auch den Kulturbegriff erweitern.
Eine Aufbruchstimmung ging durch das Blatt, als hätte sich McKinsey mit einem fünfzig Mann starken Team zu einer Betriebsbesichtigung angemeldet. Als erstes sollte man das Motto der neuen Zeit anpassen, schlug ein altgedienter Redakteur vor, der noch mit Otto Suhr Skat gespielt hatte. „Culturae cognoscere causas!“ – das peppte doch ganz anders. Alles ist Kultur, Kultur ist alles, rief ein anderer, der wegen einer ziemlich saftigen Bewirtungsquittung in die Geschäftsstelle bestellt war. Kultur ist, wenn man trotzdem lacht, dachte die Moderedakteurin bei sich, aber es gelang ihr einfach nicht, den Blick vom laubfroschgrünen Einstecktuch ihres Gegenübers zu wenden.
Kultur, das läßt sich nicht bestreiten, Kultur ist Glückssache. Beim Tagesspiegel gibt es dieses Problem nicht mehr, die neue Unternehmenskultur wirkte alsbald stilbildend. Zum Beispiel die Lage in Burma. In anderen Nachrichtenredaktionen hätte man sich irgendwas als Überschrift abgekrampft wie „Das Gespenst der Angst geht um in Burma“ oder ein bißchen gestabt: „Lage in Burma bleibt bedenklich“. Beim Tagesspiegel sind sie ausgeschlafen und melden, daß in Burma „eine Kultur der Angst“ herrsche. Darauf muß man erst mal kommen.
Aber beim Tagesspiegel hat man längst das gepflegte Schnarchen eingestellt, das das Traditionsblatt über die Jahrzehnte prägte. Jetzt weht ein frischer Wind. Schon hat sich die Autoredaktion zur Kulturoase erklärt. Demnächst wird der Tagesspiegel ernst machen mit der neuen Unternehmenskultur und ins Haus der Kulturen der Welt umziehen. Da kommt kein Joghurt mehr mit. Willi Winkler
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