■ Querspalte: Liebe nur am Kiosk
Umfragen und Studien wirken an naßtrüben Tagen prima gegen aufkeimende Winterdepression. Ähnlich wie Johanniskrauttee beugen sie der Schwere im Gemüt vor. Montags entfalten sie ihre beste Wirkung, wenn die Blätter der Liebe, Focus und Spiegel, wesentliche Fragen der Gesellschaft aufbrühen: Lebt die Familie? Zerbricht sie?
Sie lebt! schallt es aus München, sie zerbricht! aus Hamburg. Der Deutsche verhält sich privat antizyklisch zur Gesellschaftskrise, hat Focus herausgefunden. Er verläßt sich auf die Liebe, sucht Verständnis, strebt nach Treue, schmiedet aus Vertrauen und Kameradschaft den Bund fürs Leben. Die Deutschen, eingelullt vom süßen Klang der Hochzeitsglocken, zeugen auch wieder mehr Kinder. Wie viele, verrät das selbsternannte Faktenmagazin nicht. Da hauen die Defätisten vom Spiegel in die Kerbe. Das Eiapopeia vom Ich und Du und dem Kind dazu ist nur eine Episode im Leben eines Menschen. Besonders in Städten über 500.000 Einwohner kommt über kurz oder lang jeder dritten Familie der Vater abhanden – oder die Mutter. Im wilden Berlin scheitern sie schneller als im betulichen Bonn. Kein Mann, kein Kitaplatz, keine Arbeit. Die Existenz hängt am seidenen Faden.
Claudia Nolte weiß, wie schlimm das ist. Montags, wenn Frau Ministerin im heimischen Ilmenau Sohn Christoph im Kindergarten abgibt, tauscht sie sich schon mal mit anderen Müttern über Masern, knappe Haushaltskassen und das Alleinsein aus. Sie gab eine Studie über die Solo-Eltern in Auftrag. Der Befund sei höchst „dramatisch“. Die erschrockene Claudia Nolte, die Hymnen auf Vater-Mutter-Kind anstimmen kann, findet diese Woche Trost bei Focus. Aber dem Spiegel verspricht sie, sie wolle auch etwas gegen das Zerbersten der Familie tun. Was, ist unklar. Es kann dauern. Bis dahin sei depressiven kinderlosen Singles und genervten Eheleuten Johanniskrauttee empfohlen. Für rasche Aufmunterung sorgt ein gelegentlicher Gang an den Kiosk. Annette Rogalla
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