■ Querspalte: Tischfeuerwerk ohne Freibier
Das Jahr 2000 naht und kommt immer näher und will dich gern drücken. Armbanduhren, die die Zeit, die verbleibt bis zum großen Bang und Countdown, nun rückwärts zählen, finden reißenden Absatz. Lang nicht mehr gebrauchte, vornehm nach Geschichte klingende Wörter wie „Millennium“ tauchen in Scharen auf und wollen gesiezt werden.
Während sich der eine Teil der Menschheit in diversen UFO-, Fitneß-, Globalisierungs- oder Selbstmordsekten auf Aliens und Apokalypsen vorbereitet, möchten die andern vor allem feiern. Ordentlich feiern. Gottfriedwendehälsisch „kultig abhotten“ sozusagen. Gottfried Wendehals war Anfang der 80er sehr beliebt bei jungen Punkrockern. „Polonäse Blankenese“ ein Meilenstein ultrazynischer bundesrepublikanischer Selbstreflexion.
Alle Welt jedenfalls will feiern. Auch in Berlin. Zumal sich zum 2.000. Geburtstag unseres Planeten ja auch der Hauptstadtbeschluß „in allen seinen Konsequenzen“, wie es so drohend heißt, „realisieren“ wird. Jedenfalls beschloß der Senat zunächst, 80 Millionen Mark für eine geplante Jahrtausendfeier zur Verfügung zu stellen, mithin auch nicht viel mehr, als man hierorts für die grandiose Olympiabewerbung ausgegeben hatte. Im Sommer schrumpfte das Vorhaben auf 20 Millionen. Die hat man jetzt auch weggestrichen, mit den Stimmen von PDS, SPD und Grünen. Nun ja, Berlin wieder mal. Eine Geizoase inmitten einer Geizoase. Fürs Feiern war man hier nie so sehr, man will halt nichts „verschwenden“. War ja schon so bei der sogenannten Einheitsfeier – Tischfeuerwerk und kein Freibier. Das imponierte doch nur den Ostlern. Mit bebender Stimme verweisen die Genossen (von den finsteren Plänen der CDU nicht zu reden) auf rachitische Kinder, hungernd im Rinnstein von Neukölln. Das geht doch nicht. Mittlerweile erwägt man auch ganz ernstlich, den demnächst einfallenden MdBs und ihrem Troß die Bettlerfreibetragszulagen zu streichen. Ein finstres Land hier; Berlin resp. Deutschland im Herbst. Detlef Kuhlbrodt
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