■ Querspalte: Mental ist der Deutsche stark
Aufwärts geht's. Die Krankenraten sinken. In diesem Jahr fieberte der durchschnittliche Deutsche an nur 9,2 Arbeitstagen das Kopfkissen naß, statt zu arbeiten. 1996 lag er noch 10,4 Tage flach. Das Land gesundet. „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt...“, summen leise die Chefs vor sich hin. Auch die Kasse stimmt. Knapp zehn Milliarden Mark weniger wurden in diesem Jahr an Lohnausfallgeldern wegen Krankheit fällig.
Zu Zeiten der Rezession wird auch Autobauer Müller robuster. Angeschlagen von einem Grippevirus, montiert er tapfer die Autos mit dem Stern zusammen. Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes? I wo, sein Chef ist gut drauf. Und wo ein gutgelaunter, einfühlsamer Vorgesetzter sich um die Mitarbeiter kümmert, arbeitet es sich auch leicht mit einem Wehwehchen. Den Hauch von Bangnis wischt Marianne, die Sprecherin von der Firma mit den dicken Autos, beiseite. Jemand, der krank ist, spricht unmittelbar nach seiner Genesung mit einer Führungskraft. „In diesem Gespräch wird verdeutlicht, daß wir uns über seine Rückkehr freuen, weil er gebraucht wird.“
Frau Marianne weiß, mental ist der Deutsche stark. Und wer sich wohl fühlt, ist besser gewappnet gegen Grippe und Bronchitis. Eine alte Weisheit aus der Sozialmedizin. Der Virus hat keine Chance mehr und ist schwuppdiwupp ausgeschaltet. Leise hören wir Frau Marianne säuseln: „Herr Müller, das Land hat mehr als vier Millionen Arbeitslose. Wer da noch am Fließband steht, gehört zu den kräftigsten Mitarbeitern. Den kann ein Schnupfen doch nicht umhauen! Wir freuen uns, daß Sie bei uns sind. Die Firma braucht Sie!“ Noch, denkt sich Müller und geht nach draußen, im Kopf die grausam süße Melodie. Auf einer spiegelglatten Pfütze rutscht er aus. Himmlische Stille.
Frau Marianne lächelt kalt. Zwei Wochen wird Müller mit Gehirnerschütterung im Bett liegen. Der Tolpatsch treibt die Statistik in die Höhe. Einfach so. Annette Rogalla
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