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■ QuerspalteDer Niedergang des Zarismus

Die Sitzung des kaiserlich-russischen Generalstabs war über das gewohnte Maß hinaus von Frustration und Ratlosigkeit beherrscht. Man schrieb das Jahr des Unheils 1916. Soeben meldete das Küstenkommando der Marine einen entsetzlichen Verlust. Vor der finnischen Stadt Rauma hatte ein deutsches U-Boot den schwedischen Frachter Jönköpping in den Grund gebohrt. Seine Ladung war für den Generalstab selbst bestimmt gewesen: 5.000 Flaschen Champagner der Firma Heidsieck, 67 Fässer Cognac, 17 Fässer Burgunder.

Zur gleichen Zeit rieb sich Großadmiral Tirpitz die Hände. Zwei Torpedos hatten ausgereicht, den Kampfeswillen der russischen militärischen Führung nachhaltig zu schwächen. Jetzt würde es nur eine Frage weniger Monate sein, bis die ganze entmutigte Generalskamarilla von den fast ebenso schwächlichen Demokraten hinweggefegt würde. Dann könnte der zweite Teil der Geheimdienstoperation anrollen: die Schleusung der Bolschewiki zwecks Machtübernahme.

Hier haben wir den historischen Hintergrund, der ein international gemischtes Forschungsteam veranlaßte, jetzt die Jönköpping zu heben. Aber die Bergungsmannschaft, überwältigt von dem Fund, nämlich 2.000 Flaschen Champagner und 14 Fässer Cognac, wurde ihrem Forschungsauftrag untreu, das Schiff zu bergen. Es sollte dem Deutschen Historischen Museum zur Verfügung gestellt werden, damit letzteres Institut seinem Auftrag, die nationale deutsche Identität zu kräftigen, besser nachkommen könne.

In einem haben die Schatzfinder sich allerdings geschnitten. Voreilig erklärten sie der Presse, sie gedächten, pro Flasche Schampus 5.300 Mark zu erzielen. Daraus wird nichts. Die vorsichtige (neutrale) schwedische Transportfirma hatte auf Vorabkasse in Goldrubel bestanden. Via indirekter Rechtsnachfolge gehört daher die gesamte Ladung der Russischen Föderation, wie der Völkerrechtler Dr. Dr. Dreier sich in der heutigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auszuführen beeilte. Christian Semler

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