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Archiv-Artikel

Qualitätsmerkmarl

Zum 40. Mal wurden im Norden des Ruhrgebiets die Adolf-Grimme-Preise verteilt. Die Gala selbst hätte keine von diesen TV-Auszeichnungen verdient

AUS MARL CLEMENS NIEDENTHAL

Marl macht melancholisch. Die breiten Einfallstraßen, die eine gleichförmige Wirtschaftswunderarchitektur flankieren, aus der das Wunder längst aus- und die Matratzendiscounter eingezogen sind. Das Betonensemble in der Stadtmitte, welches ein Skulpturenmuseum beherbergt und mit den Jahren selbst Skulptur geworden ist. Eine Versuchsanordnung aus den letzten Tagen des Industriezeitalters. Vor dem Marler Theater, in dem an diesem Abend zum 40. Mal der Adolf-Grimme- Preis verliehen wurde, hat jemand eine vielleicht 50 Tonnen schwere Dampflokomtive auf den Kopf gestellt. Resultat ist ein Perspektivenwechsel, der auch ganz gut zum Grimme-Preis passt.

Zum einen, weil dort am nördlichen Rand des Ruhrgebiets seit 40 Jahren ehrenwert und ziemlich weise das telemediale Programmangebot der Bundesrepublik auf den buchstäblichen Kopf gestellt wird. Zum anderen, weil Sandra Maischberger an eben jenem Kopfstand scheiterte, die nicht immer populären Entscheidungen der Grimme-Jury in ein telegenes Gala-Gewand zu packen. Um es kurz zu machen: Die zeitversetzt übertragene Verleihung des Adolf-Grimme-Preises ist kaum eine Sendung, die mit eben diesem ausgezeichnet würde.

Was schade ist. Nicht für die Gala, aber für den Preis. Denn der ist nicht für Grimme-Preisträger Wigald Boning „der einzige deutsche Fernsehpreis, der hinten herum nicht doch einer merkantilen Logik gehorcht“. Boning weiß, wovon er spricht. Seine wunderbare „WIB“-Schaukel ist nur wenige Wochen vor der Nominierung aus dem ZDF-Programm geflogen. Aber auch so eine Geschichte liefert ja den Stoff, aus dem die Grimme-Mythen gestrickt werden: In Marl guckt man immer noch anders Fernsehen – obwohl und gerade weil der Straßenfeger „Das Wunder von Lengede“ in diesem Jahr zu den Preisträgern gehört.

Wie aber funktioniert anders fernsehen in Zeiten der Quotendebatten und Kulturparadigmawechsel? Zum Beispiel so: Wigald Boning trifft sich für seine „WIB-Schaukel“ mit Jürgen Drews. Und folgt auf dessen Finka eben gerade nicht der wohlgelittenen Dialektik aus Gut und Böse. Boning gibt seinen Gästen eine, nein gleich mehrere Chancen. Und es liegt an Jürgen Drews, diese zu vermasseln. Oder – wie es in einer anderen Folge das Seelenstriptease des Countrysängers Gunter Gabriel geradezu ergreifend gezeigt hat – diese auch zu nutzen.

Im Marler Stadttheater aber waren die Besserfernseher wieder unter sich. Da reichte schon Sandra Maischbergers flüchtig eingestreutes „Jürgen Drews“, um ein wissendes, ja verächtliches Raunen im Publikum zu evozieren. Feierten die geladenen Gäste einen Wigald Boning demnach letztlich gar für einen denunziatorischen Akt, den er selbst nie geleistet hat?

Und wen feierten Publikum und Preisträger sonst noch so? Armin Rohde, Heino Ferch und auch Sandra Maischberger feierten Martin Hoffmann, den im vergangenen Jahr so plötzlich entlassenen Geschäftsführer von Sat.1. Bernd, das Brot, feierte das Feiernverweigern. Andere Preisträger feierten Mama, Papa, Kind und Kegel, was genauso rührend wie langatmig daherkam. Und Rita Süssmuth feierte die Bildung, forderte, „dass wir Deutschen uns an Bildung begeistern“.

Wir Deutschen aber, wir begeistern uns fürs Fernsehen. Und dass das hin und wieder viel, viel besser ist als sein von Bundespräsident Johannes Rau im Marler Stadttheater beklagter Ruf – auch dafür steht eben seit 40 Jahren der Adolf-Grimme-Preis.

Und dafür steht letztlich auch eine in Glamour und Performance so ungeübte Stadt wie Marl, die immer öfter als Manko des Grimme-Preises begriffen wurde und die doch seine notwendige Assistentin ist. Marl schärft den Blick auf das Wesentliche. Denn würden Städte nach der Einschaltquote bemessen, flimmerte Marl wohl im Mitternachtsprogramm. So wie viele der vom Grimme-Institut ausgezeichneten Produktionen.

Der Satz des Abends übrigens, er blieb „Fast Forward“-Moderatorin Charlotte Roche, gewürdigt für das letzte Derivat popkultureller Unberechenbarkeit im deutschsprachigen Musikfernsehen, vorenthalten: „Ich freue mich für diesen Preis.“ Muss man so stehen lassen.