Putins Polier: Der umtriebige Untergebene
Er gilt als Ideenspender, Souffleur und Erfinder der "Vertikalen der Macht". Ohne den Einfluss von Wladislaw Surkow würde Russland heute anders aussehen.
MOSKAU taz | Jeder Körper verändert unter anhaltendem Druck allmählich seine Form. In der Politik sei das nicht viel anders als in der Metallverarbeitung, meint Wladislaw Surkow. In den 1980er Jahren hatte er einmal ins Studium der Metallurgie hineingeschnuppert, es dann aber sein lassen.
Stahl und Leichtmetalle waren nicht seine Welt, das Austesten von Direktionskonstanten hingegen schon. Ermittlung von Bruchstellen, das Prüfen von Belastbar- und Widerstandsfähigkeit menschlichen Materials gehören vordringlich zu seinen Aufgabe. Der Endvierziger war 12 Jahre lang Vizechef des Präsidialamtes und ist seit Dienstag stellvertretender Regierungschef.
Er zählt zur Troika der mächtigsten Männer im Staat. Putin und Medwedjew schätzen den umtriebigen Untergebenen, dessen offizielle Zuständigkeiten rund zwei Dutzend Jobs umfassen. Surkow dient dem Kreml als Ideenspender und Souffleur, seit Wladimir Putin das Amt 2000 vom Vorgänger Boris Jelzin ererbte.
Wenn es geht, meidet der hagere Vizechef mit dem weichen Engelsgesicht und diabolischem Blick die Öffentlichkeit. Interviews gibt er nur, wenn sie ins strategische Konzept passen. All das verstärkt die undurchsichtige Aura. Je geheimnisvoller der Nimbus, desto effektiver die Macht. Geheimnisse umgeben den Sohn einer Russin und eines Tschetschenen schon seit seiner Geburt.
1962 als Aslambek Dudajew in der Republik Tschetscheno-Inguschetien geboren
1982: Moskauer Hochschule für Stahl
1987: Werbeleiter im kommunistischen Jugendverband Komsomol. Chef war der spätere Ölmilliardär Michail Chodorkowski
1991-1996: leitende Funktionen im Finanzinstitut Menate unter Chodorkowski
1996-1997: Aufsichtsratsvize Alfa-Bank
1998-1999: Vizedirektor des staatlichen Fernsehens ORT
1999: Vizechef des Präsidialamts bis 2011
2003: Gründung Staatspartei Vereinigtes Russland
Verheimlichte tschetschenische Wurzeln
Wurde Wladislaw 1962 oder 1964 geboren? Wuchs er im Kaukasus oder im russischen Lipezk auf? Wann änderte er den tschetschenischen Familiennamen Dudajew in den russischen Surkow? Vor allem: Warum gab er, im Zenit der Macht und Anerkennung, die verheimlichten tschetschenischen Wurzeln preis? War es ein Akt freiwilliger Selbstunterwerfung gegenüber der Führung, nach dem Motto: Lasst mich gewähren, ich kenne meinen Platz? Surkow erfindet sich - wie Russland - immer einmal wieder neu.
Seit den Demonstrationen gegen die Wahlfälschungen bei den Dumawahlen Anfang Dezember meldet sich der Chefideologe indes häufiger öffentlich zu Wort. Das System Putin, Surkows handgefertigtes Konstrukt, gerät ins Schwanken. Von der Volatilität seiner Kunstwelten hatte der Schöpfer schon etwas geahnt. Im privaten Kreis soll er schon vor längerer Zeit geäußert haben, über dem Land schwebe eine "Illusion von Stabilität".
Der Grund für diese Zweifel ist wohl, dass die Wirklichkeit in der russischen Politik nur eine Nebenrolle spielt und von einem utopischen Narrativ ohne Utopie ersetzt wird. Ohne den Einflüsterer wäre die Entwicklung in Russland nach Jelzin anders verlaufen. Surkow ist eitel, arrogant und ein Virtuose der Macht. Niemals würde er öffentlich seinen wirklichen Einfluss preisgeben.
Im Gespräch mit einem US-Magazin 2002 deutete er vorsichtig an: Putin hätte die "Vertikale der Macht" anfangs nicht für notwendig gehalten, ja, sogar gezweifelt, ob die Straffung der Machtmechanismen wirklich die passende Therapie für Russland sei. Surkow und eine Handvoll Polittechnologen drechselten die "Vertikale", die zur flächendeckenden Rezentralisierung des Staates führte und zum Synonym der Ära Putin wurde.
Surkow setzte Blaupausen um
Alleinige Entscheidungskompetenz lag seither wieder beim Kremlchef. Hätten in den 89 Regionen der Föderation weiterhin 89 Provinzfürsten geherrscht, davon ist Surkow überzeugt, wäre Russland zugrunde gegangen. Der Architekt drückte das Modell durch. Damals ging das noch einfacher. Putin war ein Neuling im Kreml - ohne eigene Hausmacht und Erfahrungen. Auf den Baustellen draußen im Land setzte Surkow die Blaupausen um, freundlich ging es dabei nicht zu.
Doch auch in der Rolle des Poliers erwies er sich als unersetzbar. Die Ausdauer zum Formen brachte er mit - die "Vertikale der Macht" stand nach kurzer Zeit. "Gelenkte Demokratie" nannte der Chefideologe das architektonische Gesamtwerk. Die Parteien, die Duma, der Föderationsrat, die Ministerialbürokratie, die Gouverneure, Medien, Justiz und selbst die Zivilgesellschaft, die eine handverlesene Gesellschaftskammer doubelt, wurden auf Linie gebracht.
Auch die Partei der Macht, das Vereinigte Russland, ist seine Kreation und filigrane Handarbeit. Danach machte sich der lesehungrige Autodidakt an ein neues Megaprojekt. Die "souveräne Demokratie" wollte dem Staat eine geschmeidige Ideologie unterlegen und dem Volk frischen Glauben einhauchen. Seit das Imperium verloren ging, durstet es Russland nach Erbauung und geistigem Halt.
Rastlos hastet der Sinnstifter von Idee zu Idee. Das Land ist groß, die Probleme sind grenzenlos, und Russland war in den Augen der Obrigkeit immer eine Baustelle ohne Bauauflagen, die zu rücksichtsloser Selbstverwirklichung einlud. Genau der richtige Ort für jemanden wie den ehemaligen Musterschüler Surkow, der sich für ein verkanntes Genie hält. Eine postmodernistische Bühne, wo er als despotischer Regisseur den Ton angibt. Die "souveräne Demokratie" war der Gegenentwurf zur Demokratie nach westlichem Muster, von dessen Einflüssen sich Russland abgrenzen sollte.
Pate Carl Schmitt
Surkow denkt Souveränität vom Staat aus, dessen Nationalstaatlichkeit es vor dem Hintergrund der Globalisierung zu stärken gelte. Unschwer ist darin das alte Paradigma zu erkennen, in dem sich der russische Staat ausschließlich über seine äußere und imperiale Funktion begreift. Ordnung im eigenen Haus zu schaffen, Staat und Gesellschaft zu modernisieren, interessiert den Regisseur nicht wirklich. Dem Entwurf der "souveränen Demokratie" stand Carl Schmitt Pate, Kronjurist des "Dritten Reiches".
Den theoretischen Wegbereiter des Führerstaates weist der Eklektiker jedoch nicht als geistigen Vater aus. Ihm schien das dann doch zu gewagt. Zumal der Sieg über den Faschismus eine der wenigen ideologischen Säulen des Regimes und der nationalen Idee darstellt. Die Mitwirkenden der Staatspartei und systemkonformen Opposition wurden zu Statisten degradiert, werden aber gut bezahlt und erhalten mannigfaltige Möglichkeiten zu lukrativem Nebenerwerb.
Als Politkomparsen wurden sie angeheuert, und daher ist aus ihnen auch nicht viel mehr herauszuholen. Das stört den Spindoktor dann doch gelegentlich. "Streitet euch", rief er den Abgeordneten und Parteifunktionären zu. Lebendig soll die Debatte sein und unterhaltsam, forderte er. In den 1980er Jahren studierte Surkow am Kulturinstitut in Moskau die Fächer Regie und Organisation von Massenveranstaltungen im Kulturbereich.
Er beendete das Studium aber nicht und übernahm stattdessen die Leitung einer Amateurbühne. Trotz ausgeklügelter Regieanweisungen rührten sich die Marionetten nicht, sie blieben einfach stumm. Kein Wunder. Denn eine eigene Meinung gesteht ihnen der Bühnenexperte nicht zu. Die Anweisungen zum Abstimmen in der Duma erhalten sie per SMS.
Garanten der Stabilität
Die Identität zwischen "Herrschenden und Beherrschten" kündigte die Gesellschaft bei den jüngsten Wahlen auf. Sie will kein Statist mehr sein in der Surkow-Show, die aus dem Ruder läuft. Der Präsidialadministrant stellte riesige Heere zum Schutze der Inszenierung auf. Naschi, Molodaja Gwardija, Mestnije heißen die kremltreuen Jugendgruppen, die Surkow als Garanten der Stabilität und Schutztruppen gegen den Bazillus der farbigen Revolutionen in postsowjetischen Ländern auf die Bühne schickte.
Jede Gruppe hat ein eigenes Profil, einen eigenen Auftrag. Die einen sind gewaltbereite Provokateure, die anderen biedere Patrioten, die Rentnern bei Einkäufen helfen, für Volksgesundheit werben und sich gegen die Korruption auflehnen. Je nachdem, was gerade gefragt ist.
Inzwischen beschleunigen die verführten und verführenden Vaterlandsverteidiger indes den Untergang des Systems. Surkow ist kein Ideologe, er glaubt auch nicht an seine Theorien. Ende 1990er war er im Kreml unter Jelzin ein Demokrat, vorher pflegte er für den inhaftierten ehemaligen Ölmilliardär Michail Chodorkowski den Kontakt zum Staatsapparat. Im Klartext: ein Schmiergeldbote. Dem der Arbeitgeber außerordentlichen Intellekt bescheinigte, jedoch nicht über den Weg traute.
Surkow hat Russland zu seiner Bühne gemacht, auf der sich alles um Macht der Macht halber dreht und dieser Zugriff die Anhäufung immensen Reichtums garantiert. Die Posen und Masken sind beliebig, raffiniert zwar und bunt, jedoch von bedrückender Leere. Im Gegensatz zu den Mitwirkenden der Elite ist sich der Regisseur dessen bewusst. Unter dem Pseudonym Dubitzky veröffentlichte Surkow den Roman "Nahe Null", Untertitel "Gangster Fiction".
Ein Pandämonium von Gewalt und moralischen Abgründen. Eine Zustandsbeschreibung des verwesenden Kadavers Russland. "Man kann Macht erringen, ohne jemanden auszulöschen. Man muss nur aufhören. Man muss neu anfangen. Jetzt sofort", beschwört der Held am Ende sich selbst. Er ist eine der widersprüchlichen russischen Charakterfiguren, die Böses auf dem Kerbholz haben, darunter aber auch fürchterlich leiden - wie der Autor.
Surkow macht nicht nur im Roman Anleihen bei den französischen Postmodernisten. Es ist auch der Stil seiner Politik. Er zerstört die großen kulturellen Narrative. Wahrheit und Wahrhaftigkeit existieren für den Spielleiter ohnehin nicht. Wahr ist, was er auf die Bühne stellt. Wieder hat Russland ein modisches westliches Konzept aufgegriffen und es in ein Instrument der Unterdrückung verwandelt - wie schon einmal den Sozialismus.
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