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Purcell mit einem Touch Munch

Litauen und Estland kommen dann beim nächsten Mal: Nordische Chormusik des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem NDR-Chor unter dem sagenumwobenen schwedischen Dirigenten Eric Ericson  ■ Von Petra Schellen

Den wichtigsten Satz sagte er irgendwann zwischendurch: „Ich hätte mir durchaus auch litauische Werke in diesem Programm vorstellen können.“ Und wenn Eric Ericson damit auch keine Grundsatzdiskussion entfachen wollte, offenbarte dieser Kommentar zum NDR-Konzert nordischer A-cappella-Chormusik doch einen differenzierten Blick für politische Zusammenhänge: Aus Schweden stammt der 1918 geborene, sagen-umwobene Chordirigent Ericson, elf Werke nordeuropäischer Komponisten brachte der NDR-Chor unter seiner Leitung zu Gehör.

Und angesichts des Herkunftslandes des Dirigenten war es vielleicht auch kein Zufall, dass fünf davon aus Schweden stammten (Otto Olsson, Wilhelm Stenhammar, David Wikander, Sven-David Sandström, Ingvar Lidholm), während sich die zweite Konzerthälfte je zwei Finnen (Toivo Kuula, Jaacko Mäntyjärvi), Norweger (Edvard Grieg, Knut Nystedt) und Dänen (Carl Nielsen, Bo Holten) teilten.

Je einen Komponisten des 19. und des 20. Jahrhunderts hatte man ausgesucht und eine Mixtur aus weltlichen und geistlichen Werken geschaffen; teils waren die Werke in jener als typisch skandinavisch geltenden, an Grieg orientierten, romantisierenden Tonsprache, teils verhalten seriell konstruiert.

Mit einer Prime, die in einen Sekund-Liegeton mündete, begann das Stück a riveder le stelle des 1921 geborenen Ingvar Lidholm, das auf einer danteschen Inferno-Zeile basiert: Von der Sekunde zur Terz bewegten sich die einwandfrei intonierenden Frauenstimmen; als symbolisierten die Intervalle reale Zeitabstände, quälte sich im zugehörigen Text Dante durch die Finsternis. Einen in Sechzehnklängen gipfelnden Aufstieg aus der Vorhölle hat der mit Zwölftontechnik operierende Lidholm hier geschaffen – und im dezenten Schluss zeigte sich die frappierendste Qualität Ericsons: Wie beiläufig endete das Stück, als hielte die Erde nur mal kurz in ihrer Umdrehung inne.

Asymmetrisch, wie es die Naturton-Intervalle und die elliptische Drehung der Erde sind, setzte Ericson auch bei David Wikanders Vorfrühlingsabend von 1950 die Stimmen ineinander, einem harmonisch eher unauffälligen Stück, das mit delikaten Einsatzverzögerungen arbeitet, als schiebe man zum exakt richtigen Zeitpunkt den fehlenden Stein in einen Rohbau.

Dezent verfremdet hat Sven-David Sandström anno 1985 Henry Purcells Hymne Hear my prayer, o Lord: Anfangs das 1680er Vorbild brav zitierend, nimmt Sandström Purcell allmählich die Grundtöne aus den Quinten. Zum disharmonischen, munch-artigen Verzweiflungsschrei mutiert bei Sandström die Hymne, als sei das vertonte Gebet, in die Moderne übersetzt, ein seiner Axiome beraubtes Glaubenskonstrukt.

Leichtfüßig und elegant präsentierte der exakt artikulierende und intonierende NDR-Chor auch die Benedictus Dominus-Motetten Carl Nielsens: Schicht auf Schicht setzten die Frauenstimmen ihr Gotteslob, als sollte die Bewegung der Erde ein Stück mitgetanzt werden. Wie bedächtig gezogene Van-Gogh-Pinselstriche kamen die Portati daher, die die SängerInnen voluminös gestalteten.

Und schließlich Bo Holtens Andersen-Vertonung Regen und Schauer und Rosenstrauch von 1991, die mit Disharmonien so virtuos spielt wie mit traditioneller Tonsprache: Exzerpte dessen, was der Chor einflüsterte, präsentierten vier SolistInnen, brachten Modulationen des Vorhergegangenen und betteten ihren Part allmählich in die Motive des Chores ein.

Ein von romantisierender Tonsprache, dezent seriellen Passagen und dosierter Zwölftonharmonik geprägtes Konzert, dem die Vorgabe, nordische Werke zu präsentieren, zur Fessel wurde: Denn letztlich existieren für Skandinavien „typische“ Harmonien – abgesehen von den zum Klischee verkommenen Ikonen Grieg, Sibelius und Gade – genauso wenig wie ihr Gegenteil: Skandinavischer Chormusik haftet – abgesehen davon, dass sie sich auf eigene Volksmusik-Traditionen bezieht – weder Magie noch sonstig Exotisches an. Eine interessante Erkenntnis fürs Schengen-Europa, dessen Kultur – etwa durch die finnische Musiktradition – eng mit der estnischen und der osteuropäischen verzahnt ist.

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