: Pulsierende Tanzszenerie
In den Sophiensælen wagte sich Christoph Winkler an den wiederentdeckten afroamerikanischen Minimal-Music-Komponisten Julius Eastman
Von Astrid Kaminski
Alle mit Minimal Music assoziierten Komponist*innen haben ihre Choreograf*innen: Philip Glass hat Lucinda Childs, Steve Reich hat Anne Teresa De Keersmaeker, John Cage hat Merce Cunningham, Laurie Anderson Trisha Brown. Und Julius Eastman, der Schwarze, queere, esoterische Minimalist, der John Cage mit seiner schwulen Interpretation der „Song Books“ schockte, später neun Jahre lang auf der Straße lebte, und als er starb, schon längst vergessen war, hat jetzt auch jemanden: Christoph Winkler. Ernsthaft?
„Meint der das ernst?“, das ist immer mal wieder die Frage, wenn es um Christoph Winklers postkoloniale Aufarbeitungswut geht. Oder auch: Kann er das ernst meinen dürfen? Nicht alle gestehen ihm das zu. Sein neuester Streich, „Speak Boldly. The Julius Eastman Dance Project“, in Zusammenarbeit und mit den Arrangements des Berliner Zafraan Ensembles, wird in den Sophiensælen uraufgeführt. Und dieser selbstbewusste Szeneort hat sich inzwischen ein Publikum erzogen, das eher wegbleibt, wenn weiße Choreograf*innen sich an Schwarzen Themen versuchen (und das außerdem wenig Neue-Musik-affin ist). Bei der dritten Aufführung, die der Aktivist und US-Performancetheoretiker Thomas F. DeFrantz mit einem Vortrag einleitete, ist der Saal nur zu zwei Drittel voll, und das ist für einen so außergewöhnlichen Abend, eine so außergewöhnliche Besetzung im Tanzkontext (u. a. vier Flügel, sechs Celli), zu wenig. Außerdem zu wenig: Die Zafraan-Musiker*innen bleiben in den Programmnotizen namenlos.
Große Neugier auf Bewegungsstile
Christoph Winkler wurde 1967 in der DDR geboren, er hat mit Judo und Gewichtheben begonnen, in Berlin Ballett studiert. Was ihn als Choreografen auszeichnet, ist seine große Neugier auf Bewegungsstile sowie seine ebenso große Fähigkeit, jungen Talenten, die eher jenseits der subventionierten Bühnen unterwegs sind, eine Plattform zu geben und sie für den Markt zu etablieren. Ob er es darf oder nicht: Er macht es. Erfolgreich.
Eastman also. Der Schwarze Minimalist, der eher stoisch Töne als Patterns geschichtet hat, sie mit symphonischen Melodie-Aufwallungen versah und die Repetitionen plötzlich durch heulende, schreiende Sequenzen oder Suppeservieren unterbrach. In den letzten Jahren aus der Vergessenheit geholt, auch in Berlin, etwa im Rahmen der Festivals Märzmusik und Ultraschall. Nun zum ersten Mal mit einem internationalen Tänzer*innen-Cast. Und der beeindruckt: vor allem Aloaii Tapu in seinen glide-artigen Raumvibrationen und dem Haka-Reduktionismus, Jahra „Rager“ Wasala mit ihrem Domina-artigen Clowning und der Soulstimme, Lisa Ryknea in ihrer auch stimmlich geerdeten leise vehementen Präsenz, und, wenn auch etwas zu selbstverliebt, Zen Jefferson in seinem Eastman-Alter-Ego-Shift vom meditativ Versunkenen zum ankerlosen Sinnsucher. An ihn hat Winkler die letzte Choreografie zum 75-minütigen „Femenine“ übergeben, das Jefferson zum Höhepunkt mit Twerking-Shakes entert.
Fast drei Stunden geht das Programm auf der Suche nach einem Vokabular, das zu Eastman passen könnte: mit achsenbetonten Elementen aus dem Modern Dance (den Eastman selbst tanzte), Beckett- und Steptanz-Referenzen, Bewegungschören, die zwischen Moderne und Gospel angesiedelt sind, Urban Dance Mooves wie der Fingersprache Tutting, Stampfen zwischen neuseeländischen Haka-Anklängen und historischem „Sacre du Printemps“-Material. Auch wenn Winklers Hypothese, im Nachhinein ein ikonografisches Vokabular zu erfinden, ein zu großes Projekt scheint: Diese mit der Musik und doch eigenständig pulsierende Tanzlandschaft mit queerem Empowermentgestus schafft es, die Rezeptoren für die Kompositionen immer wieder neu zu öffnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen