Puderzucker in der Lohntüte

In der russischen Kleinstadt Koltschugino läßt die Wirtschaftskrise den Tauschhandel blühen. Sogar in der Industrie zählen nicht mehr Rubel, sondern Naturalien  ■ Aus Koltschugino Karsten Gravert

Durch die plärrigen Fetzen russischer Popmusik, die der Wind über den Busbahnhof treibt, dringen die Motorengeräusche des heranröhrenden Autobusses. Olga Stepanowna nimmt ihre Plastikeimer und erhebt sich von der schiefen Wartebank. „Sieh, meine Finger sind noch ganz schwarz von gestern“, ruft sie durch den aufwirbelnden Straßenstaub. „Da hatte ich drei ganze Eimer voll. Aber es wird immer schwerer. Zuviel Volk in den Wäldern.“

Die Pilzesammler scharen sich um die Türen des klapprigen Ikarus-Busses. „Seit Juni zahlt man uns keine Rente mehr“, sagt Olga. „Was soll's. Irgendwie muß man ja durch den Winter.“ Lächelnd verschwindet sie hinter den schmierigen Scheiben.

Die Bäuerinnen, die der Bus am Busbahnhof der 40.000-Einwohner-Stadt Koltschugino ausgespuckt hat, ziehen zum Marktplatz. Die meisten tragen Milchkrüge und Tüten mit Quark. Gemüse werden sie hier nur schwer los, da 85 Prozent der Stadtbewohner ihr eigenes Datschaland besitzen. Für den Tageserlös kaufen sich die Angereisten Brot. Für mehr reicht es meist nicht. Besonders Öl und Seife sind mit der Krise unerschwinglich geworden.

Durch die Preissteigerung und die Vorenthaltung der Löhne gleicht die russische Provinz mehr denn je einer archaischen Agrargesellschaft. Die eigene Krume ist Haupteinnahmequelle und Lebensversicherung. Das wenige Geld im Umlauf hat nur noch Gutscheincharakter, um die Waren des täglichen Bedarfs auszutauschen. Das einzige neue Gebäude des Ortes, die Filiale der staatlichen Sberbank, steht verwaist. In ihrer Raubritterarchitektur gemahnt sie an die Datschen, die die neuen Prunkrussen im Umland aus dem Boden stampfen lassen: steilglatte Backsteinwände, schießschartenkleine Fenster, gußeisern vergittert, architektonisch stilisierte Wachtürme und Zinnen.

150 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, ist Koltschugino ein typisches Provinznest der Moskauer Industrieperipherie – einer Region, die besonders unter dem Niedergang der sowjetischen Maschinenbau- und Leichtindustrie leidet. Koltschugino beherbergt drei Leninstatuen, zwei privatisierte Fabriken und sogar ein Wahrzeichen, einen ausrangierten Wasserturm aus den 30er Jahren, dem der Beton aus dem Stahlgeflecht bröckelt. Hochzeitspaare lassen sich freilich lieber vor der ewigen Flamme der Toten des „Großen Vaterländischen Krieges“ fotografieren. Die Warenauslagen der Geschäfte erinnern an alte Zeiten: Kunstvolle Dosenpyramiden, ästhetische Errungenschaft der Mangelwirtschaft, dominieren die Regale. Die übriggebliebenen Waren kosten im Schnitt die Hälfte mehr als vor drei Wochen.

Hier, im Gebiet Wladimir, wurden bis jetzt kaum wirtschaftliche Krisenmaßnahmen verhängt. Lediglich der Verkauf von Lebensmitteln wurde eingeschränkt – hauptsächlich um die Hamsterkäufer aus Moskau abzuwehren, die hier in den ersten Tagen der Krise kofferraumweise abgeräumt hatten.

In der Kabelfabrik von Direktor Sitko an der Koltschuginoer Leninallee rauchen die Schornsteine noch. Die Geschäftsräume werden gerade mit Plastikplatten mit Carrara-Marmormuster repräsentativ renoviert. Sitko sitzt in Herrscherpose an seinem Schreibtisch, jede Geste unterstreicht seinen Status als mächtigster Mann des Ortes. In tschernomyrdinscher Durchhalterhetorik läßt er die Welt wissen: „Die Krise ist eine notwendige Stufe des Modernisierungsprozesses. Wir haben immer gearbeitet, wir arbeiten, und wir werden arbeiten.“ Daß auch sein Betrieb auf Tauschwirtschaft angewiesen ist, gibt Sitko zögernd zu: „Aber wir tauschen unsere Kabel nicht gegen Snickers oder Pampers, nur gegen Produktionsmittel. Das Wichtigste ist: Wir haben immer unsere Gehälter gezahlt, wir zahlen, und wir werden zahlen.“

Vor den Fabriktoren weiß man es besser. Auch Sitko ist seinen Arbeitern den letzten Monatslohn schuldig geblieben. „Aber wir arbeiten natürlich weiter“, sagt ein Arbeiter achselzuckend. „Die Jungs von der Buntmetallfabrik kriegen schon seit April kein Geld mehr.“

Nebenan bei „Koltschug-Buntmetall“ stehen die Maschinen still. Vor zwei Wochen schickte der leitende Ingenieur, Schimanaew, seine Arbeiter nach Hause. Praktisch über Nacht waren die Rohstoffpreise um das Dreifache angestiegen. Die Kunden für die Fabrikate aus Kupfer und Messing waren nicht mehr liquide und niemand wußte, zu welchem Preis man das versilberte Tafelgeschirr und Besteck verkaufen sollte. „Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten wir 10.000 Arbeiter“, berichtet Schimanaew, „jetzt haben wir nur noch 4.000, und auch die können wir nicht bezahlen. In letzter Zeit konnten wir als Lohn nur noch Mehl oder Puderzucker auszahlen, den wir bei anderen Betrieben eingetauscht hatten.“ Er blickt verlegen in seine Unterlagen. Nach sieben Jahren Krisenverwaltung hat das Unternehmen nun vermutlich den Todesstoß erhalten. „Zuletzt haben wir sogar unsere Steuern mit Lebensmitteln bezahlt.“

Andererseits hat die Firmenleitung wahren Weitblick bewiesen, als sie ihren Arbeitern im vorigen Monat den Lohn in Form von je zehn Kilogramm Puderzucker auszahlte. Aus Zucker und Hefe nämlich entsteht in kundiger Heimarbeit ein krisenfestes Tauschmittel: Samogon, selbstgebrannter Schnaps, eine Spezialität der Koltschuginoer Seniorinnen. Bei einem Schwarzmarktpreis von zehn Rubel pro Flasche beträgt die Gewinnspanne rund 400 Prozent.

Milizoffizier Oleg hat sich dem Kampf gegen dieses braune Gold verschrieben. „Früher hatten wir hier viel mit diebischen Arbeitern aus der Buntmetallfabrik zu tun. Aber die klauen nicht mehr, aus Angst um ihren Job. Jetzt sind solche Experten hier unsere einzige Kundschaft“, sagt er und zeigt auf die Rückbank seines Dienst-Lada. Dort sitzt Juri, ein stadtbekannter Trinker, und murmelt beleidigt vor sich hin. „Für ihn macht das 30 Rubel Strafe für den Besitz der Flasche und 30 Rubel für das Befinden im Rauschzustand.“

Stolz präsentiert der Wachtmeister das sorgsam ausgefüllte Protokoll. Dort steht: „Flüssigkeit vernichtet vermittels Ausschüttens auf den Boden.“ Doch davon hätte ja niemand etwas. „Das Zeug ist leckerer als dieser verdünnte Industriewodka“, erläutert Oleg, während er die Flasche zum Probeschluck reicht, „und wirkt auch besser. 49 Prozent Alkohol.“

Anders als seine Moskauer Kollegen kann sich Oleg seinen Lohn von umgerechnet 200 Mark nicht mit der branchenüblichen Wegelagerei aufbessern. Es gibt hier zuwenig Autobesitzer, als daß er sich mit kreativer Bußgeldpolitik ein Auskommen sichern könnte. Deshalb arbeitet er zusätzlich bei seiner Frau, die neben ihrem Lehrerinnenjob eine Provinzboutique betreibt. Zudem züchtet er Kartoffeln. Das Ehepaar ist keine Ausnahme: Ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung Rußlands hat Zweitjobs, 40 Prozent des durchschnittlichen Familieneinkommens ist schwarz erarbeitet. Dazu kommen noch die Einkünfte aus der privaten Landwirtschaft und aus dem Tauschhandel.

Existentiell bedroht durch die Krise sind daher hauptsächlich diejenigen der 37 Millionen Pensionäre, die keinen familiären Rückhalt haben. Lilia Owtscharowa vom Institut für Sozialökonomische Probleme hat errechnet, daß 80 Prozent der russischen Landbevölkerung weitgehend außerhalb des nationalen Finanzsystems leben. Daher sind auch die düsteren offiziellen Statistiken mit Vorsicht zu lesen, die über die Hälfte der Russen unter der Armutsgrenze wähnen. Der Durchschnittslohn im Gebiet Wladimir von offiziell 550 Rubel (vor der Krise: 170 Mark) stellt nur einen Bruchteil des realen Einkommens dar.

In Sowjetzeiten, als man Waren kaum kaufen konnte, sondern „organisieren“ mußte, entwickelte sich ein geldfreies Tauschsystem: Kartoffeln gegen Keilriemen gegen gute Mathenoten gegen Dachreparatur. Heute läßt dieser Filz einerseits jede Reform im Ansatz scheitern, andererseits bietet er eine private Absicherung gegen Finanzkrisen. Selbst wenn das Arbeitsverhältnis keinen Lohn mehr bringt, so bringt es doch Zugang zu Waren und zu sozialem Kontakt – und damit zur Tauschwirtschaft. Zusammen mit den sozialen Vergünstigungen von Kindergartenplatz bis Rentenanspruch liegt hier der Grund, warum Rußlands Arbeiter auch ohne Lohn arbeiten.

Wenn es Abend wird über Koltschugino, geht jeder seinen Zerstreuungen nach. Die Kleinstadtjugend quält Katzen, die Älteren flanieren über die stockdunklen Straßen oder lehnen an den vergitterten Kiosken, den Zentren des provinziellen Nachtlebens. Im „Kalinka“, ein Lokal im welken Sowjet-Glitzer-Look gegenüber der Ruine des ehemaligen Kinos, feiern Igor und Natascha Hochzeit. Die Brautmutter ist froh, daß ihr Kind an einen Milizionär geraten hat. Denn das ist einer der wenigen Berufe mit Zukunft.

Das junge Brautpaar wird auf den realkapitalistischen Alltag eingestimmt. Igor muß seine verschleppte Braut mit harten Valuta freikaufen, und der stückchenweise Verkauf der Hochzeitstorte gerät zur erhitzten Auktion, bei der nur Dollars zählen. Die älteren Gäste schütteln weise den Kopf. Daß an diesem Abend ein neuer Premierminister sein Amt antritt, interessiert im „Kalinka“ niemanden. „Das sollen die Moskauer mal unter sich ausmachen“, erklärt der Opa des Bräutigams: „Erst haben uns die Kommunisten beklaut, dann die amerikanischen Imperialisten, jetzt beide gemeinsam. Ich weiß nur, daß bald Winter wird. Und daran wird auch dieser Primakow nichts ändern.“