piwik no script img

Public Viewing bei der PräsidentenwahlWollen wir das wirklich sehen?

Heute wird ein neuer Präsident gewählt. Die ARD ist nicht nur live dabei. Sie überträgt auch auf Großleinwand vor dem Reichstag. Muss das sein? Vier Antworten.

Verlocken sie zum Public Viewing? Die PräsidentschaftskandidatInnen Wulff, Gauck, Jochimsen. Bild: DPA

Das gemeinschaftliche Fernsehen im Freien scheint sich langsam als Kulturtechnik zu etablieren. Ob Fußball-WM oder schwedische Prinzessinnenhochzeit - man sitzt zusammen im Freien und konsumiert, was einem die Leinwand bietet.

Jetzt also auch die Bundespräsidentenwahl. Vor ehrwürdiger Reichstagskulisse zusammensitzen, was Kaltes trinken und dabei zusehen, wie der Kandidat der Herzen dem Kandidaten der rechnerischen Mehrheit unterliegt. Geht das? Nein, das Präsi-Viewing ist ein zynisches Spektakel in mehrerlei Hinsicht: Erstens wird den Bürgern durch das kollektive Gucken eine Teilhabe suggeriert, die sie nicht haben. Zweitens wird die mediale Aufbereitung dem Anlass nicht gerecht: Bei dieser Wahl sind Ablauf und Ergebnis relativ voraussehbar, viel entscheidender ist die Analyse. Aber die geht draußen in der Menge bekanntlich unter.

Drittens ist das Appellieren ans schwarz-rot-gelbe Zusammengehörigkeitsgefühl der Fernsehzuschauer ziemlich billig - während im Hintergrund die schwarz-gelbe Koalition die soziale Spaltung betreibt. Eine funktionierende Demokratie sollte das parlamentarische Kerngeschäft wieder ernster nehmen - und das kollektive Glotzen den Fußballfans überlassen. NINA APIN

Public Viewing Reichstag

Um 11.40 Uhr wird es staatstragend: Am Westeingang des Reichtags überträgt das ARD-Hauptstadtstudio die Wahl zum Bundespräsidenten - live. Es handelt sich freilich um dasselbe Programm, das Millionen von Noch-Gebührenzahlern auf den heimischen Bildschirmen sehen können. Kommentiert wird die Übertragung von Hauptstadtstudio-Leiter Ulrich Deppendorf.

Verantwortlich für das Politik-Viewing ist nicht die Bundestagsverwaltung, sondern allein die ARD. Schließlich wird die Projektionsfläche auf öffentlichem Straßenland aufgebaut. Schon bei der Bundespräsidentenwahl im vergangenen Jahr gab es eine solche Videowand.

Wenn in der Bundesversammlung alles glatt läuft, endet die Übertragung voraussichtlich gegen 15 Uhr, wenn nicht, geht die Live-Schalte in Verlängerung.

***

DER FAHRPLAN DER WAHL

9 Uhr Ökumenischer Gottesdienst mit den Präsidenten-Kandidaten und Mitgliedern der Bundesversammlung in der St. Hedwigs-Kathedrale

11 Uhr Fraktionssitzungen mit letztem Zählappell

12 Uhr Beginn der 14. Bundesversammlung mit 1244 Delegierten aus Bund und Ländern. Ansprache von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU)

12.15 Uhr Beginn des ersten Wahlgangs. Für die CDU/CSU und FDP kandidiert Christian Wulff (CDU), für SPD und Grüne Joachim Gauck. Die Linke hat Luc Jochimsen nominiert, die NPD den Liedermacher Frank Rennicke.

14.30 Uhr Ergebnis des ersten Wahlgangs. Erreicht kein Kandidat die absolute Mehrheit, folgen weitere Wahlgänge. Vom dritten Wahlgang an reicht die einfache Mehrheit.

Im Fall seiner Wahl zum Bundespräsidenten tritt Wulff als Ministerpräsident von Niedersachsen mit "sofortiger Wirkung" zurück.

Nach der Wahl hält der Gewählte seine erste Ansprache als Bundespräsident.

Am Freitag um 13 Uhr wird das neue Staatsoberhaupt in einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat vereidigt.

So wird es kommen: Wenn die Mitglieder der Bundesversammlung an die Urnen streben, wird sich draußen, vor der Videowand, ein großes Geschrei erheben. Angestachelt von Flashmobbern und Aktivisten einer Facebook-Gruppe, skandiert die Menge im Wechsel "Wir sind das Volk" und den Namen ihres Kandidaten. Bis in den Plenarsaal dringt der tausendfache Ruf, man sieht den Gesichtern auf der Großprojektion ihre Verwirrung an, ein Tumult entsteht, bis schließlich Joachim Gauck auf den Westbalkon des Reichstagsgebäudes tritt …

So wird es nicht kommen. Auch diesmal wird keine Revolution stattfinden, und am Ende wird der Kandidat der Regierung die Blumen überreicht bekommen. Was zählt, ist der Proporz, nicht das Charisma oder das intellektuelle Gewicht der Person. Aber vielleicht ist es gerade deshalb nicht das Schlechteste, wenn ein paar hundert oder tausend Staatsbürger beim Public Viewing jenes Demokratiespektakel verfolgen, das sich in den vergangenen Wochen mit ungewohnter Dramatik aufgeladen hat.

Vielleicht wird ihnen stellvertretend für viele andere die Entfremdung der Politiker von den Bürgern bewusst, der "immer trotzigere Versuch, eine Politik von gestern zu bewahren", wie Richard David Precht im Spiegel schreibt.

Von gestern wäre in diesem Fall die indirekte Wahl des Staatsoberhaupts mit Netz und doppeltem Boden, von heute oder gar von morgen die nur vermeintlich gestrige Losung, mehr Demokratie zu wagen. Auch die Medienkompetenz ist ja seit den 70er Jahren gewachsen - warum sollte sich das Noch-nicht-mal-Stimmvieh von einer Liveübertragung einlullen lassen? Erkenntnisgewinn ist auch ein Gewinn. CLAUDIUS PRÖSSER

Wie es auch geht, zeigt sich dieser Tage in Polen. Östlich der Oder findet grade Wahlkampf statt, Präsidentenwahlkampf. Bei der Stichwahl am Sonntag stehen sich Exministerpräsident Jaroslaw Kaczynski und Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski gegenüber. Dass das Ganze so spannend ist, hat nicht nur damit zu tun, dass der Zwillingsbruder des verstorbenen Staatspräsidenten Lech Kaczynski eine Aufholjagd hingelegt hat. Es geht auch um was. Der Präsident in Polen ist kein Frühstücksdirektor, er hat Macht. Vor allem aber wird er vom Volk gewählt.

Kein Mensch würde sich also wundern, wenn das polnische Fernsehen auf den Gedanken käme, zur Stichwahl am Sonntag ein Public Viewing zu veranstalten. Etwas anders liegen die Dinge in Berlin. Hier geht es um nichts. Nicht um Macht, und erst recht nicht um eine Direktwahl. Trotzdem wird das "Duell" Christian Wulff gegen Joachim Gauck öffentlich vor der Reichstagswiese übertragen. Gehts noch?

Egal. Außer ein paar Oberstufenklassen und ihren Studienräten wird sich eh keiner das Lehrstück in Sachen Demokratie anschauen. Und das liegt ausnahmesweise nicht mal am Fußball. Der hat am Mittwoch nämlich Ruhetag. UWE RADA

Das waren noch Zeiten: Flipstüte auf und Glotze an. Wir hatten unser eigenes Public Viewing auf unserem cordbraunen Familiensofa. Unsere Helden: Wetten-dass-Maniacs, die einen Lkw auf vier Biergläser stellten, Patrick Swayze im Kampf für Liebe und Gerechtigkeit im amerikanischen Bürgerkrieg und der Gassenfeger "Dallas". Der wäre ja nichts ohne den bösesten aller bösen Helden, J. R. Ewing, gewesen.

Nur: Wir sind älter geworden. Die Eltern haben das cordbraune Sofa längst verbannt und leben im Süden, und die Freunde und Geschwister schauen sich alles lieber am Laptop und im Wohnzimmer an. Schöne Fernsehmomente gehen flöten, weil wir sie nicht teilen können. "Ach nee, der schon wieder" und "Mann, ist der grottig" sagen und bei den Mitschauern Zustimmung ernten, das kann die Netzgemeinde mit ihrer Kommentarfunktion nicht toppen.

Public Viewing ist nostalgischer Familiensofaersatz, hat aber bei der Bundespräsidentenwahl nichts zu suchen. Die Wahl wird dadurch für den Durchschnittsbürger nicht interessanter. Aber die nächste Bundespräsidentenwahl könnten die Verantwortlichen als Volksentscheid aufziehen und dann PV anbieten? Das wär doch was.

EBRU TASDEMIR

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

17 Kommentare

 / 
  • L
    Lars

    Es sind nicht 4 Kandidaten. Es sind 3 Kandidiaten und ein ....

     

    (der Rest war leider so beleidigend formuliert, dass es gegen unsere Statuten verstieß, die red.)

  • D
    Dennis

    Sind Vuvuzelas erlaubt?

  • E
    emil

    warum denn nicht, vielleicht mal ein bisschen politik an die wand werfen, statt einem bildungsfernen jugendmob beim ball spielen zu sehen?

  • AV
    alexander van essen

    "Die ARD ist nicht nur live dabei. Sie überträgt auch auf Großleinwand vor dem Reichstag."

     

    Das wirft bei mir die Frage auf, wer das Spektakel eigentlich bezahlt? Die ARD? Gehört das zum Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?

  • B
    Bert

    Sind es nicht 4 Kandidaten ?

  • H
    hto

    Hören, Sehen und LESEN, die konfusionierende Überproduktion von systemrational-zeitgeistlichem Kommunikationsmüll, im stumpf- wie wahnsinnigen Tanz um den heißen Brei / das Marionetten-Theater im Glauben an die unveränderbare Hierarchie von materialisticher "Absicherung" - damit die gebildete Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche den Pfad des "gesunden" Konkurrenzdenkens dieser "freiheitlich-demokratischen" Welt- und "Werteordnung" NICHT für EINDEUTIGE Wahrheit verläßt!?

  • TS
    Thomas Sch.

    Liebe TAZ, ich will ja nicht meckern, aber zur journalistischen Sorgfalstprlicht gehört es ja doch wohl, mitzutelen, daß es vier Kandidaten gibt und nicht nur drei. Ob Sie ihn nun mögen oder nicht, es sind vier !

  • A
    ASTA

    Hauptsache der Urnenpöbel wird unterhalten!

  • KD
    Karl der Große

    Natürlich ist es für viele Menschen interessant zu beobachten, wie eine Bundestagspräsidentenwahl vor sich geht.Warum nicht?

     

    Ich finde die Idee der "Liveübertragung"... übrigens auch anderer politischer Veranstaltungen gut und richtig.

     

    Eine andere Frage ist, inwieweit die Kandidatenkür und der ganze Wahlakt nun wirklich unserem Grundgesetz entspricht..,- daran habe ich zumindest teilweise echte Zweifel.

     

    Denn.., :wenn ein Herr Gerhardt öffentlich bekundet, das er wohl parteistrategisch wählen wird..- dann verläßt er schließlich hier bereits unsere demokratische Grundordnung..,

    denn er ist nicht seiner Partei, sondern nur seinem Gewissen gegenüber verantwortlich.

     

    Wenn aber das Vertrauen in die Demokratie derart gering ist.. bzw. das in seines Gewissens.., was will man dann noch von diesen "Volksvertretern" erwarten.

     

    Gerade die FDPler, von denen immerhin einige mittlerweile aufgewacht sind, rühmen sich ebenfalls damit, reine Bürgervertreter und seinen Gruppen zu sein und eben keine echten Volksvertreter. Auch diese "Lobbyistenordnung"....entspricht keinesfalls unserem Grundgesetz.

     

    Wie gut.., das eine große Mehrheit des Volkes die

    Aushebelung des Grundgesetzes ablehnt und die FDP zumindest den Umfragen nach zur Zeit im Bundestag nichts mehr zu suchen hätte.

     

    Schade eigentlich, denn diese Partei hat durchaus Potential..., nur werden die guten und wichtigen Themen unterdrückt...

  • C
    Clingel

    Wie lange dauert es noch bis es mehr Demokratie in Deutschland gibt. Wollte Angela Merkl nicht "mehr Demokratie wagen" Aber statt mehr direkte Demokratie wird das Volk mit Pseudobeteiligung per TV ruhig gestellt. Schlaft vor dem Fernseher vor lauter Langeweile ein. Statt sich für eine Veränderung zu engagieren. Und die rote Karte für eine solche Politik zu ziehen!

  • PS
    Phillip Sidek

    Wenn schon Public Viewing, dann konsequenter Weise auch Public Voting!

    Mehr direkte Demokratie jetzt!

  • T
    Tajmahal

    In meinen Augen ist dieses 'public viewing' eine inhaltsleere Veranstaltung ohne jeden Wert, aber Feigenblatt für die seit langem fehlenden Konzepte politischer Bildung im ÖR-Fernsehen. Offenbar Antwort auf die Frage: wie können wir unserer ständigen Publikumsverblödung einen Hauch von Seriosität geben, so inhaltsleer wie möglich? Klar: Präsidentenwahl!

  • P
    Peter

    Wenn man sich das Titelbild dieses TAZ-Artikels ansieht, sieht man zumindest an der Anordnung der Bilder der drei Kandidaten sowie an der Breite der Photos, bei wem die Präferenz der TAZ liegt...

  • AW
    Axel Wartburg

    Na, unbedingt!

     

    Genau wie beim Fußball möchten sich andere den oder die Toten vor der Beisetzung noch einmal ansehen können.

     

    Oder hab ich die Übersetzung des Begriffs falsch erfasst:

     

    U.S. funeral customs:

    'Viewing' refers to the period of time in which the body (open-casket viewing) or the casket (closed casket viewing) of the deceased can be viewed to pay last respects. 'Public viewing' means that anyone can attend the viewing . 'Family viewing' or 'private viewing' means that the viewing is restricted to family members and friends of the deceased.

     

     

    Das liebe ich so an "Brot & Spiele":

    Die Idioten (abgleitet vom griechischen "Idios", was jene Gruppen (Massen) bezeichnete, die zu malochen und das System nicht zu hinterfragen hatten) machen noch heute das Gleiche wie früher. Nur subtiler.

     

    Sie lassen sich verblöden.

     

    Daher glauben ja auch so viele, dass Demokratie etwas anderes als eine Diktatur ist. Dabie ist sie die Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit. Schon immer so gewesen.

     

    Wie wäre es da mit eindeutigen deutschen Worten?

     

    1. gemeinsam ansehen

    2. Mitbestimmung

     

    Nee, das ist unkühl.

  • O
    olofur

    Ich finde diese ansammlung an pseudo-intelektueller arroganz a la "ich schaue keine TV" mehr als enttäuschend. was ist an PV denn nun wirklich so verwerflich? und warum sollen die menschen nicht dabei zusehen, wenn die von ihnen gewählten das staatsoberhaupt wählen? ist doch immer noch besser, als wenn alles ganz heimlich und leise im RT passiert und niemand hats gesehen.

  • M
    Matthias

    also Leute...alle zum Reichstag mit Vuvuzela...Delling und Netzer weden auch Moderieren...spannender gehts nicht mehr...Jogie for President.

  • X
    xonra

    Diese Präsidentenwahl kann getrost unter der Überschrift Brot und Spiele abgehakt werden. Die demokratischen Vorgänge in dieser Republik sind immer mehr nur Medienspektakel mit darauf folgenden Umfragen.

    Wenn Demokratie ernst genommen würde, müßte diese schwarz gelbe Regierung zurücktreten, bevor weitere Fehlentscheidungen getroffen werden. Leider ist die Opposition kaum besser, deshalb ist die Partei Wählnix auf der Siegerstrasse.