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ProzessVom Unglück des Kaufens

Fast eine halbe Million Euro hat ein konsumsüchtiger Mitarbeiter einer kleinen Krankenkasse veruntreut - hätte er sich nicht selbst angezeigt, es wäre nie aufgefallen

Der Krankenkassen-Mensch, ein Gefangener seiner Begierden Bild: Leo

Es ist nie jemand aufgefallen. Nicht der kleinen Betriebskrankenkasse eines namhaften bremischen Rüstungskonzerns. Von ihr veruntreute Herr H. binnen dreier Jahre fast eine halbe Million Euro. Nicht den drei externen Prüfern. Sie kontrollierten in dieser Zeit jeweils all deren Konten. Nicht dem renommierten bremischen Bankhaus. Bei ihm verfügte der Sozialversicherungsfachangestellte allmonatlich über fünfstellige Beträge.

Herr H. war jung und bekam das Geld. "Es war total simpel." Als wenn man zum Bankautomat gehe. "Es hat keiner nachgefragt." Am Ende zeigte er sich selbst an. Jetzt muss der 37-Jährige sich wegen Untreue vor dem Amtsgericht verantworten, ihm drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Sein kleines Gehalt, das er inzwischen wieder bezieht, wird gepfändet. Die Schulden kann er dennoch nie zurück zahlen. Freunde, sagt er, sind kaum noch da. Das alte Leben, es liegt in Scherben. "Er hat den steinigen Weg gewählt", sagt sein Anwalt. Warum - viele seiner ehemaligen Kollegen können es nicht recht verstehen. Es wäre ja doch nie aufgeflogen.

"Es waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens", sagt H. vor Gericht, auch, nein: weil es am Geld im Grunde nie mangelte. Er war kaufsüchtig.

Nicht, dass er ganz große Anschaffungen getätigt hätte, sein Audi A4 war ein Leihwagen, seine Wohnung gemietet. Aber er hat sich regelmäßig "etwas gegönnt": Städtereisen in ganz Europa, Amerika. Mittags wie abends speiste er stets im Restaurant. Und dann ging er immer noch shoppen - Hemden, Krawatten, Schuhe, dazu viel technisches Gerät, das er später auf dem Flohmarkt verscherbelte. Manchmal landete es auch gleich auf der Deponie. Er brauchte es ja nicht. Und vielleicht hätten ihm die Eltern, die Freunde doch irgendwann unangenehme Fragen gestellt. Schon früher, sagt H., konnte er nicht recht mit Geld umgehen, das Auto war zu teuer, gut 40.000 Euro Schulden sammelten sich an.

Aber andererseits - er hat ja auch gut verdient, da stellt die Bank wenig Fragen. Bis zu 3.500 Euro brutto, zuzüglich Weihnachts- und Urlaubsgeld. Und es wäre noch mehr geworden: In der Krankenkasse stieg H. in wenigen Jahren zum Personalratsvorsitzenden auf, war für Führungspositionen im Gespräch. Er arbeitete in "seinen Traumjob", versichert er, wollte in der Firma alt werden. Und wenn sich als "motiviert und beständig" beschreibt, mag man ihm das gerne glauben.

2005 wurde alles anders. Mit einem Ohnmachtsanfall fing es an, weitere kamen hinzu, immer neue Ärzte wurden konsultiert. Sie schrieben Befunde, fanden aber keine Erklärung. Also bastelt er sich selbst eine - H. ist einer, der alles unter Kontrolle hatte. Und in der Familie häuft sich der plötzliche Herztod, ein angeborener Herzklappenfehler. Ein plausibler Zusammenhang. Angst kam auf. Todesangst.

Mit tränenerstickter Stimme sitzt H. auf der Anklagebank, zieht ein Taschentusch aus dem schwarzen Sakko, dass so gut zu den Lederschuhen, dem blütenweißen Hemd passt. Immer wieder stockt der Vortrag. "Es gab keine Zukunft mehr." Nur die stete, alles überragende Furcht, aus der nächsten Bewusstlosigkeit nicht aufzuwachen. Wo er doch noch so viel machen wollte.

Also wird das Sparkonto geplündert, Hab und Gut verkauft. Immer schneller dreht sich das Hamsterrad des Konsums. "Hauptsache: nicht nachdenken." Doch die Flucht vor der Angst, die Droge, sie muss finanziert werden. Bei Junkies würde das Beschaffungskriminalität nennen. H. gründet eine Briefkastenfirma, eröffnet ein Geschäftskonto, zweigt fiktive Beitragserstattungen seiner Krankenkasse ab, bis zu 72.000 Euro auf einmal. Als seine Gesundheit sich 2006 wieder bessert, mit ihr die scheinbare Gewissheit schwindet, bald tot zu sein, ist es zu spät. Zu groß ist die Angst vor den lebenslänglichen Konsequenzen, zu einfach das Weiter so. Drei Jahre wird es dauern, ehe der frühere Messdiener sich einem Pfarrer anvertraut, seinem Vorstandschef zu Hause, abends auf der Terrasse, alles beichtet.

Das Urteil wird für Ende Juli erwartet.

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