Prozess: Auf Nimmerwiedersehen
Ein 24-Jähriger zwingt zwei junge Männer, für ihn zu betteln. Mit dem Geld beschafft er sich Heroin. In Haft wird er Vater und will alles anders machen. Das Landgericht Kiel glaubt ihm und beschließt: Therapie statt Strafe.
Und wie immer ist jemand unter den Zuschauern, der sagt: "Er sieht gar nicht wie ein Schläger aus." Das tut der 24-jährige Wassilij E. tatsächlich nicht. Mit dem schmalen Gesicht und den kurzen dunklen Haaren sieht er aus wie ein junger Mathematikstudent. Wassilij E. hat über Wochen hinweg mit seiner Freundin zwei junge Männer gezwungen, für sie betteln zu gehen. Wenn Mike V. und Niko H. nicht genügend Geld ablieferten, schlug das Paar sie krankenhausreif. Aber die interessante Frage im Kieler Landgericht ist nicht, ob man das E. ansehen kann. Die interessante Frage ist, ob der vorbestrafte E. in Haft oder in Therapie besser aufgehoben ist. Und wie sich die neue und heftig umstrittene Prozessordnung in der Praxis auswirkt.
Man könnte sagen, dass sie sich zunächst darin zeigt, dass der Angeklagte die räuberische Erpressung und Körperverletzung zum Prozessbeginn bestreitet. Er werde sich nicht weiter dazu äußern, sagt sein Verteidiger. Dafür erzählt Wassilij E. seinen Werdegang: in Minsk geboren, als er fünf Jahre alt ist, verlässt der Vater die Familie. Die Mutter heiratet erneut und geht mit dem Stiefvater nach Deutschland. Wassilij kommt als Zehnjähriger nach. Er besucht das Gymnasium, aber wegen mangelnder Deutschkenntnisse wechselt er erst auf die Realschule, dann auf die Hauptschule. Den Hauptschulabschluss macht er schließlich an der Volkshochschule.
Spätestens ab dann geht es abwärts, und wenn man Wassilij E. glaubt, liegt das vor allem an den Umständen. Die falschen Freunde bringen ihn zum Heroin, das er erst mit Diebstahl finanziert und dann, weil er Angst beim Klauen hat, mit "schlimmeren Taten", nämlich Überfällen. Er wird verhaftet - "das fand ich gut", sagt er, denn im Gefängnis bleibt er clean, anschließend findet er eine Lehre als Koch. Aber die verliert er wieder, weil er aus seinem Zimmer ausziehen muss, ein anderes kann er sich nicht leisten, dann kommen wieder die Drogen.
Damals muss E. mit seiner Freundin die Idee gekommen sein, dass Nico H. und Mike V. die Geldquelle dafür sein könnten. Die beiden sind Nachbarn seiner Freundin, einer schmalen Person mit dunklem Pferdeschwanz, die im Zuschauerraum sitzt, als Nico H. seine Aussage macht. Aber das Gericht will ihn gar nicht hören. Die Vernehmungen der Polizei genügen ihm. Also fragen die Journalisten Nico H. auf dem Flur, wie E. ihn zum Betteln zwingen konnte. Aber H., mit seinem ein wenig verquollenen Gesicht, der ganz stämmig in seinem Anorak wirkt, kann es nur ansatzweise erklären. "Ich habe keine Chance gegen ihn", sagt er. Das mag stimmen, wenn der andere seine Entschlossenheit der Sucht verdankt. Warum H. nicht wegging? Das Paar hätte ihn gefunden, sagt er.
Damals, als er am Kieler Bahnhof bettelte, hat er gut verdient: 50 bis 150 Euro sollen sein Freund und er pro Tag bekommen haben. Sie sprachen Passanten an, sagten, sie müssten telefonieren, etwas zu Trinken kaufen. Manche steckten ihnen sogar fünfzehn Euro zu. Jetzt hat H. einen 400-Euro Job und stottert Schulden ab. Dass sein Freund und er nicht mehr betteln, haben sie - und das ist eine der erstaunlichen Wendungen dieser Geschichte - dem Vater von Wassilij E.s Freundin zu verdanken. Dem fielen ihre zerschlagenen Gesichter auf, er verschaffte ihnen eine Wohnung, er ermutigte sie, Anzeige zu erstatten. Im September 2008, in Haft, wird Wassilij E. Vater. Seitdem will er alles anders machen. Eigentlich auch eine Therapie, aber er könne, so sagt er, seinen alten Eltern, die sich um seinen Sohn kümmern, die Last nicht alleine aufbürden. Das klingt mäßig überzeugend.
Das Gericht schlägt ein Gespräch zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft vor. Das Ergebnis: Wenn E. gesteht, wird ihm eine Verurteilung zu zwei Jahren und drei Monaten in Aussicht gestellt, drei Monate gelten als vollstreckt, weil die Tat bereits zwei Jahre zurückliegt. E. gesteht. "Ich danke Ihnen", sagt er. "Sie werden mich nicht wiedersehen." Er schluckt. Das Gericht verurteilt ihn wie abgesprochen. Und es urteilt nach dem Prinzip "Therapie statt Strafe". Statt ins Gefängnis soll Wassilij E. in eine stationäre Therapie gehen.
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