Prozess wegen illegalen Waffenexports: Der Bruder, der verstehen will

Sechs Studenten wurden 2014 in Mexiko erschossen, 43 verschleppt. Ermittelt wird auch gegen Heckler & Koch. Ein Angehöriger kommt zum Prozess.

Banner mit Porträts der 43 seit dem 26. September 2014 vermissten Studenten

Vermisst, aber nicht vergessen: Banner mit Porträts der seit 2014 vermissten Studenten Foto: dpa

MEXIKO-STADT/STUTTGART taz | Manchmal reagiert Aldo. Wenn sein großer Bruder ihn anspricht, bewegt er die Augen oder ballt die Hände vorsichtig zu einer Faust. Es sind die Momente, in denen Leonel Gutiérrez spürt, dass Aldo ihn wahrnimmt. „Er sieht und spricht nicht, aber er kann uns hören“, sagt Gutiérrez. Dann massiert der Mexikaner seinem Bruder die Beine oder sorgt dafür, dass die Kanülen richtig sitzen. Alle zwei, drei Stunden dreht er Aldos Körper, damit keine Druckstellen entstehen. Immer wieder putzt er ihm die Spucke vom Mund. „Unser einziger Trost ist, dass er selbstständig atmet.“

Leonel Gutiérrez bleibt sachlich, wenn er erzählt, wie er seinen Bruder pflegt. Tag für Tag verbringen er und andere Familienmitglieder in der Rehabilitationsklinik INR im Süden von Mexiko-Stadt. Seit dem 26. September 2014 vergeht keine Stunde, in der sie sich nicht um Aldo kümmern. An diesem Tag wurde der damals 19-Jährige Opfer eines brutalen Angriffs – und seitdem liegt er im Wachkoma.

Polizisten und Kriminelle gingen in der südmexikanischen Stadt Iguala bewaffnet gegen Studenten der pädagogischen Landschule Ayotzinapa vor. Sechs Menschen starben, 43 sind bis heute verschwunden. Aldo Gutiérrez blieb schwer verletzt am Boden liegen. „Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen“, sagt sein Bruder. „Die Kugel hat den Schädel durchdrungen und die Hälfte des Gehirns zerstört.“

Nun hat sich Leonel Gutiérrez auf eine Reise gemacht. Genau vier Jahre nach dem Massaker besucht er am Mittwoch einen Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht. Dort müssen sich seit Mai fünf ehemalige Mitarbeiter der Rüstungsschmiede Heckler&Koch für den illegalen Export von Schusswaffen nach Mexiko verantworten. Die Waffenbauer sollen knapp 5.000 Sturmgewehre vom Typ G36 in mexikanische Regionen geliefert haben, für die die Exportbehörden wegen der schlechten Menschenrechtslage keine Liefergenehmigung erteilt hatten.

„Mit G36-Gewehren geschossen“

Die G36 gelangten auch illegal nach Iguala im Bundesstaat Guerrero. Nach dem Massaker an den Studenten fanden die Ermittler 38 der Sturmgewehre im Polizeirevier der Stadt, mindestens sieben waren in der Nacht im Einsatz. Mit einer dieser Waffen schoss aller Wahrscheinlichkeit nach ein Polizist auf Aldo Gutiérrez. Das bestätigt der Anwalt Santiago Aguirre vom mexikanischen Menschenrechtszentrum ProDh. Wegen der mangelhaften Beweissicherung könne nicht mit absoluter Sicherheit gesagt werden, dass die Kugel in Aldos Gehirn aus dieser Waffe stamme, sagt er. „Aber außer Zweifel steht, dass in dieser Situation mit den G36-Gewehren geschossen wurde.“

Leonel Gutiérrez möchte verstehen, warum eine deutsche Rüstungsfirma ihre tödlichen Produkte in seine Heimat exportiert. Schließlich liefern sich dort Kriminelle blutige Kämpfe um Anbauflächen und Transportrouten für Drogen, kassieren Schutzgeld und terrorisieren die Bevölkerung. Viele Politiker, Militärs, Polizisten und Beamte stecken mit ihnen unter einer Decke.

Angehöriger Leonel Gutiérrez

„Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen“

Auch Gutiérrez Bruder wurde Opfer dieser verbrecherischen Struktur. Die Studenten hatten mehrere Busse gekapert, um auf eine Demonstration nach Mexiko-Stadt zu fahren. Das ist in Mexiko nicht ungewöhnlich. Oft nehmen Gewerkschafter oder Linke Fahrzeuge in Beschlag, um sie für ihre Aktivitäten zu nutzen. Umso unerwarteter war die brutale Reaktion. Der Bürgermeister von Iguala, Mitglied einer kriminellen Bande, gab den Befehl, Polizeibeamte verhafteten die Studenten, die Kriminellen verschleppten sie, Soldaten und Bundespolizisten schauten zu. Vieles spricht dafür, dass sich in einem der Busse Heroin befunden hat, das in die USA gebracht werden sollte.

Täglich sterben in Guerrero Menschen durch diesen Terror, immer wieder sind die schwäbischen Sturmgewehre im Spiel. Doch im Stuttgarter Prozess spielen die Opfer keine Rolle. Dort geht es um interne Mails, geheime Absprachen und gefälschte Dokumente, die den Verbleib der Waffen verschleiern sollten. Die Richter sollen aufklären, ob die Angeklagten wussten, dass die Hälfte der 9.652 gelieferten Sturmgewehre genau dorthin gingen, wo sie nie hätten landen dürfen.

„Keine Einschränkungen“

Dafür spricht einiges. So etwa die Aussage eines Waffenausbilders, der für Heckler&Koch in den „verbotenen“ Regionen tätig war. Als Zeuge bestätigte er jüngst, dass seine Reiseabrechnungen von höchster Stelle, also von den auf der Anklagebank sitzenden Ex-Geschäftsführern, abgesegnet werden mussten. Auch in den Kaufverträgen zwischen Heckler&Koch und dem mexikanischen Verteidigungsministerium steht schwarz auf weiß, dass die G36 nach Guerrero geliefert werden sollen. „Wenn wir uns die Verträge anschauen, wird deutlich, dass es keine Kontrolle und keine Einschränkungen gab“, erklärt Sofia de Robina vom Menschenrechtszentrum ProDH.

Gemeinsam mit Gutiérrez ist Robina nach Deutschland gereist. „Ich hoffe, dass der Prozess gut verläuft und die Verantwortlichen verurteilt werden“, sagt Aldos Bruder. Eigentlich wollte seine Familie als Nebenkläger auftreten. Das Berliner European Center for Constitutional and Human Rights hatte deshalb bereits Akteneinsicht beantragt. Doch die Richter lehnten ab. „Der Antragsteller ist mit Hinblick auf den Anklagevorwurf nicht Verletzter“, hieß es. Im Prozess gehe es nicht um versuchten Mord, sondern um das Kriegswaffenkontrollgesetz. Dabei hätte Gutiérrez gerne vor Gericht gesprochen: „Ich hätte den Richtern berichtet, was mit den Waffen Schlimmes angerichtet wurde.“

Seit vier Jahren kämpft seine Familie dafür, dass Aldos Fall aufgeklärt wird. Doch die mexikanischen Strafverfolger hätten nichts erreicht, kritisiert Leonel Gutiérrez. „Sie bemühen sich, den Fall in die Länge zu ziehen, damit er in Vergessenheit gerät.“ Das zehrt. Seine Mutter leidet an Diabetes, der Vater erlitt einen Herzinfarkt. Der kleine Bauernhof wirft ohnehin zu wenig ab, und Leonel kommt kaum noch dazu, mit seiner Arbeit als Busfahrer das Familieneinkommen aufzustocken. Längst ist auch er an seine Grenzen gestoßen: „Das ist physisch und finanziell kaum mehr leistbar.“

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