Prozess wegen Massenmord in KZ: Experte bezweifelt Erinnerungslücke
Im Verfahren gegen einen 101-jährigen Angeklagten schildert ein Zeuge den unmenschlichen Alltag im Lager Sachsenhausen.
Falsche Erinnerungen seien zwar bei allen Menschen ein bekanntes Phänomen und hätten oft den Zweck, nach traumatischen oder beschämenden Erlebnissen ein positives Selbstbild zu erhalten, erläuterte der Sachverständige am Freitag dem Gericht. Solche falschen Erinnerungen könnten sich im Alter verfestigen, je länger die Ereignisse zurücklägen. Dies betreffe aber kurze, abgegrenzte Vorfälle. Eine falsche Erinnerung für einen Zeitraum über mehr als drei Jahre sei kaum denkbar, erklärte der Sachverständige.
In dem Prozess vor dem Landgericht Neuruppin ist der 101-Jährige aus Brandenburg/Havel angeklagt, als damaliger Wachmann in dem KZ von 1942 bis 1945 Beihilfe zum Mord an mindestens 3.518 Häftlingen geleistet zu haben. Das Verfahren wird aus organisatorischen Gründen in einer Sporthalle in Brandenburg/Havel geführt.
Der Angeklagte hat in dem Verfahren bislang bestritten, überhaupt in dem Lager gewesen zu sein. Stattdessen will er in der fraglichen Zeit als Landarbeiter bei Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) gearbeitet haben. Die Tätigkeit eines SS-Wachmanns mit seinem Namen, Geburtsdatum und Geburtsort ist aber durch viele Dokumente belegt. Auch seine Mutter und sein Vater hatten in Briefen an deutsche Behörden angegeben, dass ihr Sohn bei der SS in Oranienburg diene.
Überlebender sagt aus
Am Freitag schilderte in dem Prozess auch erneut ein Überlebender aus Frankreich den unmenschlichen Lageralltag. Der 98-jährige Marcel Suillerot aus der Nähe von Dijon sagte dem Gericht in einer Videovernehmung, dass er 1943 als 20-Jähriger mit vielen weiteren französischen Gefangenen in das KZ gekommen sei, nachdem er in Frankreich Flugblätter gegen die deutschen Besatzer verteilt habe. „Die SS-Männer sagten uns: ‚Ihr geht durch das Tor in das Lager hinein und durch den Schornstein wieder hinaus‘“, berichtete er.
Suillerot berichtete, dass er anfangs gemeinsam mit anderen Häftlingen Zementsäcke schleppen musste. „Wer einen Sack fallen ließ, wurde wegen Sabotage von den Wachleuten tot geschlagen“, berichtete der 98-Jährige. Bei stundenlangen Appellen in extremer Kälte seien Kameraden erfroren. In den Baracken hätten sehr schlechte hygienische Bedingungen geherrscht. Wegen geringer Anlässe seien Mithäftlinge grausam misshandelt und erhängt worden, berichtete der Überlebende.
Im April 1945 wurde Suillerot mit Tausenden anderen Häftlingen von der SS auf den Todesmarsch in Richtung Norden geschickt. Wer nicht mehr weiterlaufen konnte, sei von den Wachleuten getötet worden. Von 32.000 Häftlingen hätten nur 18.000 den Marsch überlebt, berichtete der 98-Jährige. In der Nähe von Schwerin seien die Überlebenden von sowjetischen Soldaten befreit worden.
Prozess vor Abschluss
Der seit Oktober laufende Prozess steuert nach Angaben von Gerichtssprecherin Iris le Claire auf einen Abschluss zu. Die Beweisaufnahme könne möglicherweise in der kommenden Woche abgeschlossen werden. In diesem Fall könnten am 24. März die Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und den fünf Nebenkläger-Vertretern beginnen. Ein Urteil sei dann im April zu erwarten.
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