Prozess gegen CHP-Parteichef: Schonfrist für die türkische Opposition
Seit Sonntag protestierten in der Türkei viele CHP-Anhänger gegen die drohende Absetzung von Parteichef Özgür Özel. Jetzt wurde der Prozess überraschend vertagt.
Ein mit Spannung erwartetes Urteil zur Zukunft der größten türkischen Oppositionspartei CHP ist am Montag auf Ende Oktober vertagt worden. Im Prozess geht es darum, ob die Parteispitze einschließlich des Vorsitzenden Özgür Özel im Amt bleiben darf. Eigentlich dürfen nur Parteitagsdelegierte und der Hohe Wahlrat in der Türkei über solche Fragen entscheiden. Doch die Generalstaatsanwaltschaft hat auf Weisung der Regierung ein Verfahren gegen die CHP eingeleitet. Der Vorwurf: Die Wahl von Özel und dem Vorstand im Oktober 2023 sei durch Bestechung von Delegierten zustande gekommen.
Beweise dafür gibt es nicht und auch der politische Kontext spricht dagegen. Özel setzte sich gegen den bisherigen Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu durch, der nach seiner Niederlage gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2023 stark an Rückhalt verloren hatte. Gemeinsam mit dem populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu überzeugte Özel die Delegierten, dass die Partei unter Kılıçdaroğlu und seiner Mannschaft keine Zukunft habe.
Das neue Führungsduo bewies bei den Kommunalwahlen im März 2024, wie richtig diese Einschätzung war: Die runderneuerte CHP gewann nicht nur landesweit, sondern auch in allen wichtigen Großstädten wie Istanbul, Ankara und Izmir. Erdoğan konnte die Wähler nicht mehr überzeugen und vor allem in Istanbul, wo er seinen Kandidaten massiv unterstützte, verlor er ein zweites Mal nach 2019 die größte und wichtigste Metropole des Landes.
Die Antwort des türkischen Präsidenten auf die Niederlage folgte im März dieses Jahres. Wegen angeblicher Korruption in der Istanbuler Stadtverwaltung wurde Ekrem İmamoğlu festgenommen und wenige Tage später von einem Untersuchungsrichter in U-Haft geschickt. Die Festnahme Iİmamoğlus, der gerade auch als Präsidentschaftskandidat seiner Partei aufgestellt worden war, führte nicht nur zu den größten Protesten gegen Erdoğan seit vielen Jahren, sondern auch zu Hunderten weiteren Festnahmen von Kommunalpolitikern der CHP – nicht nur in Istanbul, sondern auch in anderen Städten, die die Partei 2024 gewonnen hatte.
Erdoğan will den erfolglosen Kılıçdaroğlu zurück
Es wurde offensichtlich, dass Erdoğan die verlorene Kommunalwahl mittels einer von ihm gelenkten Justiz wieder zurückdrehen wollte. Aber nicht nur das. Schon bald richteten sich die Angriffe nicht mehr nur auf BürgermeisterInnen der CHP und deren MitarbeiterInnen, sondern direkt gegen die Partei. Zunächst verhaftete man den Vorsitzenden der CHP-Jugendorganisation wegen angeblicher Beleidigung eines Staatsanwalts.
Dann entwickelte Erdoğans Justiz eine neue Taktik: Statt ein Parteiverbotsverfahren einzuleiten, was womöglich vor dem Verfassungsgericht gescheitert wäre, weil es als eines der wenigen Gerichte noch nicht völlig von Erdoğan-Anhängern dominiert ist, begann die Justiz die Rechtmäßigkeit der CHP-Parteitage infrage zu stellen.
Unterstützt von einer kleinen Gruppe um den abgewählten Kılıçdaroğlu behauptete die Staatsanwaltschaft, dessen Abwahl sei durch Stimmenkauf erfolgt. Das Ziel dieser Strategie ist es, den für Erdoğan bequemen, weil notorisch erfolglosen Kemal Kılıçdaroğlu wieder ins Amt einzusetzen. Trotz heftiger Proteste innerhalb der CHP beteuerte Kılıçdaroğlu wiederholt, dass er bereit wäre, die Rolle als Treuhänder von Erdoğans Gnaden zu übernehmen. Wie das ablaufen könnte, demonstrierte die Justiz bereits bei der Istanbuler Parteiorganisation. Dort behauptete man in einem Schauprozess, die Istanbuler Parteiführung sei nur durch Stimmenkauf an die Macht gekommen, sie wurde deshalb ihres Amtes enthoben. Mit Polizeigewalt setzte man Gürsel Tekin, einen Kılıçdaroğlu-Vertrauten, als Zwangsverwalter ein.
Um ein ähnliches Szenario auf Landesebene zu erschweren, mobilisierte die CHP am Sonntag Zehntausende Anhänger nach Ankara. Sie wollten am Montag die Parteizentrale besetzen, um Kilicdaroglus etwaige Rückkehr zu blockieren. Özel sagte, die Menge sei zusammengekommen, um sich „gegen den Putsch“ zu stellen, der gegen seine Partei geführt werde.
Doch mit der Vertagung des Urteils ließ das Gericht die Mobilisierung ins Leere laufen. Nahezu alle politischen Beobachter gehen davon aus, dass damit die Amtsenthebung von Özgür Özel nicht verhindert, sondern nur aufgeschoben worden ist. Seit İmamoğlus Verhaftung im März organisiert die CHP, angeführt von Özel, wöchentlich zwei Protestkundgebungen. Offenbar setzt die Regierung darauf, dass der Opposition bald die Luft ausgehen wird. Der nächste Termin für die Gerichtsverhandlung ist nun der 24. Oktober.
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