Prozess gegen Asylbewerber: Täter und Opfer und Täter
In Potsdam wurde ein Kurde verfolgt und bedroht. Weil er sich wehrte, steht er nun vor Gericht. Sein Anwalt plädiert auf Freispruch, die Angreifer können sich nicht erinnern
Vor dem Amtsgericht in Potsdam begann gestern die Hauptverhandlung gegen den kurdischen Asylbewerber Musa E. Er soll im März 2007 vor seiner Wohnungstür mit einem Tischbein Arm und Schulter des 17-jährigen Benjamin K. getroffen und verletzt haben. Der 46-jährige Vater von zwei Kleinkindern bestreitet die Tat nicht, doch besteht er auf Notwehr. Er und seine Familie wären von einer aufgebrachten Horde Jugendlicher lebensbedrohlich bedroht worden. Panische Angst hätte ihn getrieben. Sein Anwalt plädiert auf Freispruch.
Ein anonymer Anrufer auf dem Handy eines Mädchens scheint der Grund für die Aufregung der Jugendlichen gewesen zu sein. "Der Anrufer hat mich sexuell belästigt", erklärt die Zeugin Jessica H. "Wir waren alle richtig wütend." Angeblich habe der Mann am Telefon gesagt, er könne ihre Gruppe beobachten. Als sie den Wohnblock, vor dem sie stehen, mustern, fällt ihnen Musa E. hinter seinem Fenster im 5. Stock auf, sagt die 15-Jährige - "mit Stinkefinger in unsere Richtung und Handy am Ohr".
Der Schuldige war gefunden. Jetzt musste er nur noch zur Rede gestellt werden. Lautstark forderten sie Musa E. auf herunterzukommen, "um die Sache zu klären", so Hauptzeuge und Wortführer Benjamin K.
Wie es dann weiterging, konnte gestern nicht abschließend geklärt werden, da alle drei Zeugen eigene Varianten anzubieten hatten. Zudem verstrickten sie sich immer wieder in Widersprüche: Benjamin K. räumt ein, "Scheißausländer" gerufen zu haben, etwas "neben der Spur" gewesen zu sein und Musa E. an der Wechselsprechanlage zum "Einzelkampf - Mann gegen Mann" - aufgefordert zu haben.
An der Wohnungstür habe er aber nur dreimal geklopft und höflich gewartet. Deshalb sei er vom Angriff des Kurden überrascht worden. Sein 16-jähriger Mitstreiter, Tom-Rene H., sagte, er sei zwar mit vor der Wohnung von Musa E. gewesen, könne sich aber an fast keine Details aus seinem Polizeiprotokoll erinnern. Seine Eltern würden auch schon sagen, "er hätte irgendwas im Gehirn", weil er so viel vergesse.
Schließlich Jessica: Sie wollte nie im Haus gewesen sein, hätte aber versucht, die Jungs von der Tat abzuhalten. Als die Polizei schließlich eintraf, hätte der anonyme Anrufer noch immer angerufen. "Da ist mir klar geworden, dass Herr E. es nicht gewesen sein konnte", erzählt die Zeugin schließlich beiläufig am Ende ihrer Befragung.
Als Skandal bezeichnet Dominique John von der Opferperspektive Brandenburg die Verhandlung: "Ein Angegriffener muss sich verteidigen, während die Anklage gegen die Jugendlichen fallen gelassen wurde."
Zudem werde die Chance vertan, den Jugendlichen Hilfen anzubieten. "Die machen ihre Zeugenaussage und sind wieder weg." Ein Urteil wird für Ende Oktober erwartet.
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