: Provokation vor dem Klassenfeind
KUBA Der kubanische Jazzsänger Roberto Carcassés nutzte ein Konzert als Appell für Meinungsfreiheit
Die Tribuna Antimperalisita ist Kubas wichtigste politische Bühne. Vis-à-vis der von dicken Mauern umgebenen US-Interessenvertretung am Malecón, der Uferpromenade von Kubas Hauptstadt Havanna, befindet sich die Open-Air-Location. Hier haben Dutzende Konzerte mit eindeutigen Botschaften an den Klassenfeind im Norden, die USA, stattgefunden.
Das Konzert vom 12. September folgte dem gleichen Strickmuster. Die Crème der kubanischen Musik war verpflichtet worden, ihre Solidarität mit fünf kubanischen Geheimagenten, von denen vier in US-Haft sitzen, zu bekunden und deren Freilassung zu fordern.
Große Bühne
So auch Interactivo, Kubas derzeit innovativste Fusionband, die am Ende auftrat. Bandleader Roberto Carcassés nutzte die große Bühne, um in einem der Songs nicht für nur die Freilassung der Agenten und gegen die US-Politik gegenüber Kuba einzutreten, sondern auch den „freien Zugang zur Information“ einzufordern, „um mir meine eigene Meinung zu bilden“.
Darauf folgte der Refrain „Quiero, acuérdate que quiero“, zu Deutsch „Ich will, denk dran, ich will“ und dann der Appell den „Präsidenten in direkten Wahlen und nicht auf anderem Wege zu wählen“.
Explosive Botschaften, die das staatliche Fernsehen live und landesweit ausstrahlte und die bis heute das Thema in Havannas Kulturszene sind. Nicht nur weil der 41-jährige Pianist, Sänger und Bandleader einen Politevent erster Kategorie für seinen Appell genutzt hatte, sondern weil er am nächsten Tag ins Kulturministerium zitiert und wegen „opportunistischen Verhaltens“ mit einem Auftrittsverbot belegt wurde. So ist es auf Carcassés Facebook-Seite zu lesen.
Der Sohn von Jazzlegende Bobby Carcassés hatte die Grenze des Spielfelds verlassen, wie es in Kuba heißt. Die hatte Fidel Castro in seiner „Rede an die Intellektuellen“ bereits 1961 mit den Worten „Innerhalb der Revolution, alles; entgegen der Revolution, nichts“ festgelegt.
Eine Leitlinie, die in Kubas Administration nach wie vor gilt, wie die Reaktion des Kulturministeriums belegt. Gleichwohl haben sich die Zeiten geändert. Pablo Milanés und Silvio Rodríguez, beides einflussreiche Sänger der Revolution, haben sich neben vielen anderen in den letzten Jahren für mehr Pragmatismus und weniger Ideologie im Kulturbetrieb wie in der Wirtschaft des Landes ausgesprochen. Von Pablo Milanés stammt der Satz „Die Ideen diskutiert und debattiert man, man sperrt sie nicht ein.“ Und sein Kollege Rodríguez warb wiederholt für ein „Ende der Logik des Kalten Kriegs“.
Signal an die Behörden
Den Worten ließ Rodríguez nun Taten folgen. Nach dem offiziellen Auftrittsverbot für Robertico – wie Carcassés in Kuba meist genannt wird – bot er dem in Ungnade gefallenen Musiker an, bei seinen nächsten beiden Konzerten neben ihm auf der Bühne zu stehen.
Ein Signal an die Verantwortlichen am Platz der Revolution. Die reagierten wenig später und hoben die Sanktion für den Musiker auf, wie Carcassés nun am Freitag bestätigte.
Der Musiker war bis dahin öffentlich nie als Kritiker in Erscheinung getreten. Privat hatte der Musiker, der in Havannas Stadtteil Marianao lebt und begeisterter Freizeitkicker ist, aber nie einen Hehl daraus gemacht, dass er an der Kultur-, Bildungs- und Informationspolitik der Regierung einiges auszusetzen hat. Engstirnigkeit warf er den Verantwortlichen vor. Und richtig genervt haben den kreativen Jazzmusiker, der auch regelmäßig im US-amerikanischen Miami auf der Bühne steht und in der internationalen Jazzszene einen guten Ruf genießt, die Hürden beim Zugang zum Internet.
Damit ist er nicht allein. Längst warnen Intellektuelle wie der Schriftsteller Leonardo Padura davor, dass die Insel de facto vom technologischen Fortschritt abgenabelt sei, plädieren wie Sänger Raúl Paz für mehr Austausch und mehr Pragmatismus. Diese Diskussion hat mit dem Auftritt von Robertico Carcassés und der Rücknahme des Auftrittsverbot an Fahrt aufgenommen. Eine Debatte, die Revolutionsbarde Silvio Rodríguez begrüßt. In einem Brief an die Verantwortlichen schrieb er, „ein Fehler darf nicht zu einem anderen führen“. KNUT HENKEL