Protokoll einer Seeelenlähmung

■ W.G. Sebalds „Schwindel.Gefühle“

Die Irritationen, die das Buch mit dem zweideutigen Titel Schwindel.Gefühle auslöst, beginnen schon bei der Person des Autors. Wer ist dieser im Westen Englands als Universitätsdozent lebende W.G. Sebald, der seinen Vornamen hinter Initialien versteckt? Gleicht er in der partiellen Anonymisierung seiner Person nicht schon seinem Titelhelden, dessen Identität sich in einem Prozeß der Auflösung befindet? Die starken Schwindelgefühle jedenfalls, die den Ich-Erzähler von Sebalds Prosabuch regelmäßig heimsuchen und seine Furcht vor einer „Lähmung des Kopfes“ und einer „Zersetzung der Schädelnerven“ wachrufen, lassen auch den Leser nicht unberührt. Was als vermeintlich disparates Konglomerat von literaturhistorischen Episoden und autobiographischer Reiseerzählungen daherkommt, entpuppt sich als eines der schönsten und zugleich verstörendsten Bücher der letzten Jahre.

An einer Stelle dieses faszinierend verrätselten Buches treffen wir unvermittelt auf die Abbildung eines Labyrinths, die der Autor nebst vielen anderen visuellen Materialien in den Text eingefügt hat. Das ist programmatisch zu verstehen: Denn das zwischen Roman und Essay changierende Prosabuch von W.G. Sebald ist als labyrinthischer Bau angelegt, darin durchaus dem Werk Kafkas verwandt, auf dessen Spuren sich Sebalds Erzähler bewegt. Auf end- und ziellosen Wegen wandert dieser Ich-Erzähler durch Wien, Venedig und Verona und steigert sich dort bis zur Erschöpfung in einen halluzinativen Beobachtungswahn hinein. Die Welt, die auf dieses gefährdete Ich einstürzt, ist erfüllt von den Zeichen des Todes.

Schwindelgefühle unterschiedlicher Art bedrohen auch die literarischen Doppelgänger des Ich-Erzählers, die im Text eine zentrale Rolle spielen: Stendhal und Kafka. Im ersten Kapitel, das von der literarischen Erforschung der Liebe durch Stendhal alias Henri Beyle handelt, geht es vor allem um die schwindelerregenden Zustände erotischer Leidenschaft. Henri Beyle, einst begeisterter Soldat unter Napoleon, faßt eines Tages den Plan, seine Erkenntnisse über das Phänomen Liebe in einer Denkschrift zusammenzufassen - aus dem Leutnant Henri Beyle wird der Schriftsteller Stendhal. Sebald rekonstruiert literaturhistorisch exakt die Lebensumstände, in denen sich Stendhal bei der Abfassung seiner Schrift befand - aber nur, um anschließend die Grenze zwischen penibler Dichterbiographie und literarischer Fiktion sorgfältig wieder zu verwischen. Schon im Stendhal -Kapitel werden auch jene alptraumartigen Visionen des Entsetzens entfaltet, die als leitmotivische Urszenen an zentralen Stellen des Textes wiederkehren. Es beginnt mit einer Reise Stendhals im Herbst des Jahres 1813 an das Südufer des Gardasees, in den Hafen von Riva, wo ihn ein schreckliches Ereignis aus der Bahn wirft. Dieses Ereignis wiederholt sich auf seltsame Weise, im September des Jahres 1913, als der Versicherungsangestellte Dr. Franz Kafka ebenfalls in Riva eintrifft, um sich dort von den psychisch verheerenden Folgen seiner unglücklichen Liebe zu Felice Bauer zu erholen. Jene Urszene, die als bedrohliches Todesbild zur zentralen Obsession der Figuren des Buches wird, wird bei Kafka in der Erzählung Der Jäger Gracchus beschrieben. „Eine Barke“, heißt es da, „schwebte leise, als werde sie über dem Wasser getragen, in den kleinen Hafen.“ Diese Barke erweist sich als Todeskahn, der ruhelos auf allen Gewässern der Welt umhergetrieben wird. In allen vier Kapiteln seines Buches zitiert Sebald die Szene, die auf die Ankunft dieser Barke im Hafen von Riva folgt: „Ein Mann mit blauem Kittel steigt ans Land und zieht die Taue durch die Ringe. Zwei andere Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen tragen hinter dem Bootsmann eine Bahre, auf der unter einem großen, blumengemusterten Tuch offenbar ein Mensch liegt.“ Erst bei der Lektüre von Sebalds viertem Kapitel, das die späte Rückkehr des Ich-Erzählers in sein Allgäuer Heimatdorf schildert, zeigt es sich, daß dieses literarische Todesbild ein traumatisches Kindheitserlebnis des Autors vorwegnimmt. Kafkas toter Jäger Gracchus, der unter dem großen Tuch verborgen liegt, hat sich hier in den Jäger Hans Schlag verwandelt, der im Tiroler Gebirge zu Tode stürzt und auf einem Schlitten, verborgen unter einer großen Decke, ins Dorf zurück gebracht wird. Auf dem Oberarm des Toten, schreibt Sebald lapidar, „war eine kleine Barke eintätowiert“.

Dieses Maskenspiel aus Zitaten, Anspielungen, Vexierbildern, authentischen Anekdoten und scheinbar autobiographischen Bekenntnissen steigert W.G. Sebald zu höchster Virtuosität. Überall suggeriert der Erzähler geheime Zusammenhänge und mysteriöse Korrespondenzen; fast jedes Detail seiner Prosa wird zum vielsagenden Zeichen in einem komplexen literarischen Verweisungssystem. Sebalds Ich -Erzähler wird immer stärker hineingezogen in den Sog der beunruhigenden Botschaften, die ihm von seinen ständigen Begleitern, den Büchern, eingeflüstert werden. Mehr noch: Er verliert sich rettungslos in der imaginären Welt der Bücher, kann schließlich zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Auch dies meint also der Titel Schwindel.Gefühle: die Kraft der Phantasie, den illusionistischen Schwindel der Literatur, der uns in bodenlose Abgründe stürzen kann.

Michael Braun

W.G. Sebald: Schwindel.Gefühle. Band63 der Reihe: Die andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt 1990, 302 Seiten, 36 DM.