Protestform: "Keine Lust mehr auf die Latschdemos"
Die erste Menschenkette in Deutschland führte 1983 von Stuttgart nach Neu-Ulm. Stefan Philipp, einer der Organisatoren, über die Risiken der Menschenkette, die Willigkeit der Teilnehmer, Anordnungen zu folgen - und die Vorteile von Kettenbändern.
taz: Ist die Menschenkette nicht eine sehr riskante Protestform, Herr Philipp?
Stefan Philipp: Nein, ich wüsste nicht warum.
Man sieht die Lücken, wenn nicht genügend Leute kommen.
Wenn man mit dem Hubschrauber darüber fliegt, würde man es natürlich sehen. Aber wenn ich an die Menschenkette 1983 zurückdenke, hätten wir die Kette über die Strecke von 120 Kilometern an vielen Stellen doppelt und dreifach schließen können.
Haben Sie, einer der Organisatoren, das so erwartet?
Wir hatten als Prophylaxemaßnahme Kettenbänder, die 1,50 Meter lang waren. Die wurden verkauft, und mit den Einnahmen konnten wir den ganzen Aufwand finanzieren. Es war der Renner, jeder fragte: "Hast du auch schon so ein Kettenband?"
Chefredakteur von Zivilcourage, der Zeitschrift der Deutschen Friedensgesellschaft. 1983 organisierte er die Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm mit.
Trotzdem ist Menschenkette als Protestform selten geblieben.
Es ist natürlich ein sehr großer organisatorischer Aufwand. Vor der Menschenkette 1983 hatten viele Leute gesagt: "Wir haben keine Lust mehr zu diesen Latschdemos." Man wollte nicht nur zu Hunderten irgendwo hingehen und sich Reden anhören. In Neu-Ulm waren Pershing II-Raketen stationiert und da sollte eine gewaltfreie Aktion zivilen Ungehorsams laufen. Aber es konnte sich nur eine Minderheit dazu entschließen, sich vor den Kaserneneingang zu setzen und sich unter dem Schimpfen der Polizei wegtragen zu lassen. Insofern haben wir die Aktionsform ziviler Ungehorsam mit einer Massenkundgebung in Stuttgart durch die Kette verbunden.
War die Kette nicht auch ein Kompromiss zwischen ziemlich unversöhnlichen Blöcken - einer für Blockade, einer für Demo - in der Friedensbewegung?
Es gab damals drei so genannte Volksversammlungen für den Frieden: eine in Hamburg, eine in Bonn und eine in Süddeutschland. Dass nun alle Welt auf die Kette geguckt hat und nicht mehr auf die Großdemos in Hamburg und Bonn, hat auch etwas damit zu tun, dass das Projekt so eine Eigendynamik entwickelt hat.
Wie war die Stimmung während der Planung?
Die Stimmung war gut. Es gab kleinere, und manchmal größere Auseinandersetzungen, wer darf reden und wie lange, aber das hat die Teilnehmer ja nicht so sehr interessiert. Es gab aber nie die Furcht, dass es nicht klappt. Die Frage war eher: Wie kriegen wir die Leute an die richtige Stelle, damit auf der Schwäbischen Alb nicht einen Kilometer niemand steht.
Wie willig waren denn die Teilnehmer, solchen Anweisungen zu folgen?
Wir hatten ein System, mit dem wir Leuten aus bestimmten Regionen bestimmte Orte zugewiesen haben. Da gab es auch Leute, die wollten nicht nach Landsee auf die Schwäbische Alb, sondern nach Esslingen. Aber man hatte Kontakt zu den Gruppen und Büros, die es damals in vielen Orten gab, und irgendwann musste man das einfach festlegen. Die Straßen waren ohnehin alle dicht, weil 300.000 Leute anreisten und am selben Tag ein Spiel zwischen FC Bayern München und VFB Stuttgart in Stuttgart war, zu dem 50.000 Leute kamen. Daher war klar: Wenn jemand von außerhalb kommt, bleibt ihm nicht viel anderes übrig als an die Stelle zu fahren, die wir festgelegt hatten. Es gab eher einen Eifer bei den Leuten, damit alles klappte. Viele waren Leute von Friedensinitiativen, die das auch mitorganisiert hatten und die einzelnen Leute wurden von ihnen integriert.
Hatte das nicht auch etwas von Familientreffen?
Vielleicht. Auf jeden Fall war klar, dass man mit Hunderttausenden von Leuten an einem Projekt beteiligt war, insofern gab es ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.
Die Friedensbewegung war sehr bunt mit Senioren-, Richter- und Konzertblockaden. Hat die Anti-AKW-Bewegung für Sie auch diese Vielfalt?
Ein Paar Jahre lang gab es damals ständig Aktionen unterschiedlichster Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen. Es war ein kulturelles Moment, aus meiner Sicht der ganzen Bevölkerung, aber nicht zentral gesteuert. Es war klar: Man gehört ab einem gewissen Alter einfach dazu. Heute ist das wohl nicht mehr so, dass es ein breites Thema über Jahre hinweg ist.
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