Proteste in Istanbul: Erdogan will „Millionen“ mobilisieren
Erdogan hat mehrfach gedroht: Er brauche nur ein Wort zu sagen und Millionen würden auf die Straße gehen. Die Polizei stürmt unterdessen den Taksim-Platz.
ISTANBUL taz | Auch am 14. Tag der landesweiten Proteste in der Türkei zeichnet sich keine Lösung für den Aufruhr im Lande ab. Während die Opposition und selbst einige Vertreter der regierenden AKP Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan direkt oder indirekt zu Dialog und Kompromiss auffordern, setzt der Regierungschef selbst weiter auf Eskalation.
Bei drei unterschiedlichen Auftritten am Sonntagabend in Ankara verschärfte Erdogan den Tonfall gegenüber den Demonstranten nochmals. Er beschimpfte sie nicht nur als Marodeure und Vandalen, die mutwillig die türkischen Städte zerstörten, sondern drohte unverhohlen mit dem Einsatz von Gewalt. „Wir waren sehr geduldig“, sagte er, „wir werden geduldig sein, aber bald ist die Geduld am Ende.“
Gegen die Demonstranten der „Gezi-Park-Bewegung“, wie die revoltierenden jungen Leute in den Medien meist genannt werden, will er jetzt seine Anhängerschaft mobilisieren. Nachdem er schon mehrfach damit gedroht hatte, er brauche nur ein Wort zu sagen, dann könne er Millionen auf die Straße bringen, soll es am Wochenende so weit sein. Zunächst für Samstag in Ankara, dann für Sonntag in Istanbul ruft die AKP zu massenhaften Demonstrationen zur Unterstützung von Erdogan auf.
Mit Baggern und unter Einsatz von Tränengas hat die türkische Polizei am Dienstag mit der gewaltsamen Räumung eines Teils des besetzen Taksim-Platzes in Istanbul begonnen.
Die Bagger räumten Barrikaden, die die Platzbesetzer zuvor aus Metallteilen einer nahen Baustelle, von der Polizei einst zurückgelassenen Absperrzäunen und bei Straßenkämpfen demolierten Autos, errichtet hatten. Demonstranten wurden mit Tränengas zurückgetrieben. Gepanzerte Geländewagen und zahlreiche Rettungswagen standen bereit.
Die Polizei war am frühen Morgen vom Stadtteil Besiktas aus vorgerückt, als nur noch einige Tausend Demonstranten auf dem Platz im Herzen Istanbuls ausharrten. (dpa)
Die Choreografie dieser Aufmärsche war am Sonntag in Ankara geprobt worden. Die AKP-Stadtverwaltung hatte die Strecke vom Flughafen bis zum Stadtzentrum mit Erdogan-Porträts flaggen lassen. Dabei ist besonders ein Motiv aufschlussreich: Es zeigt die früheren konservativen Regierungschefs Menderes und Özal zusammen mit Erdogan. Menderes wurde 1961 nach einem Militärputsch gehenkt, Özal soll angeblich vom „kemalistischen Deep State“ vergiftet worden sein.
Und was geschieht mit Erdogan, wird auf dem Plakat gefragt. Die Absicht ist offenkundig: Erdogan, der eine große Machtfülle auf sich vereint und keine Skrupel hat, diese Macht auch gegen seine Kritiker einzusetzen, soll zu einem potenziellen Opfer stilisiert werden. Ein Opfer ausländischer Mächte, kemalistischer Eliten und der „Zinslobby“, von der Erdogan bei jedem Auftritt spricht.
Gewalt in Kauf genommen
Tatsächlich scheint Erdogan selbst zu glauben, was er sagt. Dass Jugendliche und ein frustrierter säkularer Mittelstand gegen seine autoritäre Politik aufstehen, ist für ihn so undenkbar, dass es andere Hintermänner geben muss. Zuerst war die oppositionelle CHP die Drahtzieherin, aber sie ist bei dem Aufstand so einflusslos, dass dieser Vorwurf schnell wieder verschwand. Dann waren es kleine linksradikale Gruppen. Doch auch das reichte nicht, um die friedlich Protestierenden zu denunzieren.
Nun ist es eine Mischung aus ausländischen Kräften und inländischen Eliten, die der AKP und der Türkei insgesamt den Aufstieg in die erste Liga der Weltmächte missgönnen und mit Hilfe naiver Demonstranten verhindern wollen. Dagegen soll nun die Basis der AKP mobilisiert werden. Dass daraus blutige Zusammenstöße resultieren können, wenn eine aufgehetzte AKP-Anhängerschaft auf die Gezi-Park-BesetzerInnen losgelassen wird, scheint Erdogan in Kauf zu nehmen.
Beschwichtigungsversuche, wie sie derzeit der AKP-Bürgermeister und der Gouverneur von Istanbul unternehmen, werden dadurch bedeutungslos. In einer gestrigen Kabinettssitzung, der ersten seit Beginn der Proteste, wurde zwar über mögliche Folgen für den Tourismus und die Wirtschaft insgesamt gesprochen. Von einem Angebot zum Dialog an die Taksim-Plattform, wie es Präsident Abdullah Gül während der Abwesenheit von Erdogan angeregt hatte, war jedoch nicht mehr die Rede.
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