Proteste in Israel: Das Adrenalin der Bewegung
Warum es zu den Protesten kam. Wie es weitergeht. Ein Besuch bei den Initiatorinnen des Rothschild-Camps in Tel Aviv vor dem großen Protest am Samstag.
Die "Zeltstadt" am mondänen Rothschild-Boulevard in Tel Aviv ist das pulsierende Herz der Protestbewegung in Israel. Über eine Länge von zwei Kilometern stehen hier rund 2.000 Zelte dicht aneinandergereiht. Um von einem Ende zum anderen zu gelangen, braucht man zu Fuß mehr als 15 Minuten.
Hier gibt es alles, was es auch in einer Kleinstadt gibt. Am Informationsstand lassen sich Auskünfte einholen, im Rettungswagen ist medizinische Betreuung möglich. Wer Lust auf einen Film hat, kann zwischen mehreren Open-Air-Kinos wählen. Jeden Abend geben Bands Konzerte. Die Zelte haben sogar Schilder mit Hausnummern. "Es ist eine Stadt in der Stadt. Eine alternative Gesellschaft inmitten von Tel Aviv", sagt Stav Sharif. Gemeinsam mit der jungen Filmemacherin Dafne Leef bildet sie die Spitze der Protestbewegung gegen den "Raubtierkapitalismus" in Israel.
Doch als Anführerin will Sharif nicht gelten. "Hier kann jeder tun, was er will. Die Stärke unserer Bewegung ist das totale Chaos", sagt sie. Dabei ist die Bewegung politisch gut organisiert. Entscheidungen werden in sogenannten Generalversammlungen getroffen. Wer für etwas ist, hebt die Hände hoch und schüttelt sie. "Dann tragen wir den Konsens aus dem Lager auf die nächste Ebene in die Nationalversammlung", erklärt Aya Shoshan, die eine von zwei Vertreterinnen des Rothschild-Camps ist.
Die Wirtschaft ist 2010 um 4,6 Prozent (BIP) gewachsen. Trotzdem leben 24 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Mehr als ein Viertel aller Israelis ist unter 14 Jahre alt.
Die Arbeitslosenrate liegt mit 6 Prozent auf einem israelischen Rekordtief, dabei sind jene nicht mitgerechnet, die am Arbeitsmarkt nicht teilnehmen. Etwa nur einer von vier ultraorthodoxen jüdischen Männern arbeitet. Und nur 20 Prozent der arabischen Frauen sind berufstätig.
Das Durchschnittseinkommen liegt landesweit bei rund 1.600 Euro. Am wenigsten verdient man in den Bereichen Bildung (1.270 Euro), Sozialarbeit (1.050 Euro) und Gastronomie (720 Euro).
Die Immobilienpreise sind seit 2008 insgesamt um 29 Prozent, allein im Quartal 2010 bereits um 3,8 Prozent gestiegen. Der durchschnittliche Kaufpreis für eine Dreizimmerwohnung in Tel Aviv lag Ende 2010 bei 471.000 Euro.
Die Mieten sind in allen größeren Städten über die letzten zwei Jahre zwischen 15 und 20 Prozent gestiegen. Eine Monatsmiete für eine Dreizimmerwohnung in Tel Aviv liegt bei rund 1.000 Euro. In Jerusalem zahlt man im Schnitt 20 Prozent weniger.
Für Sozialleistungen werden nur 16 Prozent des Budgets aufgewendet, während der OECD-Schnitt bei 21 liegt. Die öffentlichen Ausgaben sind seit 2005 um 6 Prozent gesunken. (andh)
Dass sie durch eine kleine Protestaktion eine Massenbewegung auslösen würde, hat Stav Shafir vor mehr als drei Wochen nicht geahnt. "Das erste Zelt habe ich selbst aufgebaut", sagt sie stolz. Landesweit sind es mittlerweile 3.383.
Vor einem Jahr war Stav Shafir mit einem Freund auf Wohnungssuche. "Ein Albtraum", sagt sie. Eine Ewigkeit hätten sie nichts gefunden. "Wir haben uns frustriert zusammengesetzt und darüber geredet, dass die Menschen dagegen auf die Straße gehen sollten." Nachdem sie dann schlussendlich doch eine Bleibe gefunden hatten, fiel die Idee wieder unter den Tisch. Bis vor Kurzem. Denn nachdem Dafne Leef nach einer ebenso erfolglosen Wohnungssuche im Juli eine Facebook-Gruppe mit gleichem Ziel gründete, machten die drei gemeinsame Sache. Am 14. Juli ziehen sie in ein Zelt am HaBima-Platz in Tel Aviv. "Die Stadtregierung dachte, wir wären spätestens nach dem Wochenende wieder weg", erinnert sich Stav. Ein Irrtum, denn die Aktion löste die größte Protestbewegung in der Geschichte Israels aus.
Verzögerungsstrategie
300.000 Menschen gingen am ersten Augustwochenende auf die Straße. Ihr zentraler Slogan: "Das Volk will soziale Gerechtigkeit." Mittlerweile hat auch die Regierung auf die Proteste reagiert. "Es ist unmöglich, diese Stimmen zu ignorieren", ließ Premierminister Benjamin Netanjahu verlauten. Ein Komitee aus Experten und Ministern soll jetzt Lösungen finden und mit den Anführern der Proteste am "runden Tisch" verhandeln.
Doch an dieses Komitee glaubt in den Zeltstädten niemand. "Die Regierung versucht nur, mit Pflaster unsere blutenden Wunden zu verarzten", kritisiert Dana, eine der Studentenführerinnen aus Jerusalem. Auch die Protestführung in Tel Aviv ist sich anscheinend einig. "Wir werden nicht verhandeln", versichert Stav Shafir. "Diese Strategie soll alles nur hinauszögern. Zuerst hat Netanjahu versucht, uns als linke Anarchisten abzustempeln. Dann wurden wir als gespalten und zerstritten gescholten. Und jetzt fragen wir uns, was dieses abstrakte Komitee soll. Die Menschen hier akzeptieren diese Strategie nicht", sagt sie.
Stav weiß, was sie tut. Ihr Ton ist bestimmt, aber freundlich. Ihr lockiges rotes Haar lässt sie stets stilvoll aussehen. Sie nimmt ihre Rolle bei den Protesten sehr ernst. Um 5.30 Uhr steht sie normalerweise auf, um erste Radiointerviews zu geben. Danach Besprechungen, Treffen und wieder Interviews. "Vor vier komme ich nie ins Bett, schlafe oft nur eineinhalb Stunden. Aber ich lebe vom Adrenalin dieser Bewegung", sagt sie, ohne dabei eine Spur müde zu wirken. Ein offizielles Papier mit Forderungen gebe es noch nicht. "Wir arbeiten daran." Immerhin müssen alle Zeltvertretungen im Konsens zustimmen, und das kann dauern.
Das von der Regierung eingesetzte "Rothschild-Komitee" wird es in jedem Fall schwer haben, alle Ansprüche zu befriedigen. Junge Paare und Studenten wollen bezahlbare Wohnungen. Sozialarbeiter und Ärzte bestehen auf höhere Löhne, Alleinerziehende Eltern auf bessere Kinderbetreuung. Und sie alle finden, dass Lebensmittel viel zu teuer sind und das Geld im Land ungerecht verteilt wird. "Es geht um einen Wohlfahrtsstaat", fasst Stav zusammen. Mit "öffentlichen Wohnungen, besserer Bildung und einem funktionierenden Gesundheitssystem."
Es ist eine Besonderheit dieser Proteste, dass nicht die Armen und Arbeitslosen, sondern Menschen der Mittelschicht revoltieren. Doch genau darin liegt der Kern des Unmuts. Denn obwohl sie hart arbeiten und viel in Bildung investiert haben, ist ihr Konto am Ende des Monats im Minus. Besonders die große Schere zwischen Einkommen und Lebenshaltungskosten trifft viele Israelis hart. Auch wenn die israelische Wirtschaft gute Zahlen schreibt und Sektoren wie der IT-Bereich boomen, sind die Früchte dieses Wachstums extrem ungleich verteilt, erklärt Ayal Kimhi, der als Vizedirektor des "Taub Center for Social Policy Studies" schon seit Jahren vor den Folgen des maroden Sozialstaates warnt. Seines Erachtens liegen die wahren Ursachen der Probleme Jahrzehnte zurück.
Gekürzte Sozialausgaben
"Nachdem die Likud-Partei 1977 die Wahlen gewann, wurde die Marktwirtschaft immer mehr liberalisiert. Aber das ist schiefgegangen. Um das Budget in den Achtzigern zu füllen, wurde dann fast der komplette öffentliche Dienst abgebaut", erklärt er. Nach der zweiten palästinensischen Intifada habe Netanjahu als Finanzminister weitere Sozialleistungen gekürzt. "Und jetzt sind wir hier", sagt Kimhi und zeigt mit dem Finger auf eine Grafik im brandneuen 400-Seiten-Bericht zur "Lage der Nation". Darauf ist erkennbar, dass die zivilen öffentlichen Ausgaben in Israel seit 2005 um 6 Prozent zurückgegangen sind. Außerdem wurden viele vormals öffentliche Dienstleistungen wie Altenbetreuung und Sozialarbeit privatisiert und in Nichtregierungsorganisationen ausgelagert. "Die Qualität und die Löhne sind deswegen stark gesunken."
Das Büro von Ayal Kimhi liegt zwischen Rechaviya und Talbiya, zwei der begehrtesten Viertel Jerusalems. Wie bei Stav Sharif und Dafne Leef in Tel Aviv ist die Wohnungssuche für viele ein Albtraum. "Es wurden einfach nicht genug Wohnungen gebaut. Deswegen übersteigt die Nachfrage das Angebot und die Preise schießen in die Höhe", erklärt er. Außerdem sei die Vergabe von Baugenehmigungen durch die staatlichen Regionalkomitees "ineffektiv und dauert oft Jahre".
Auch wenn der Mainstream der Protestbewegung die Ursachen in der sozialen Ungerechtigkeit zu suchen scheint, sehen viele auch in der Besatzungspolitik Israels einen Grund für das fehlende Geld. Die israelische Nichtregierungsorganisation Peace Now schätzt, dass "mindestens 2 Milliarden Schekel" in die Besatzung des Westjordanlandes und die jüdischen Siedlungen fließen. Das entspricht etwa 400 Millionen Euro.
Auch die Siedler sind auf den Protestzug aufgesprungen. Der Vorsitzende des Siedlerrates, Naftali Bennett, nannte die Proteste "absolut gerechtfertigt". Siedler würden den Schmerz der Bevölkerung teilen, hieß es. Kein Problem, meint Stav Shafir. "Bei uns sind auch Siedler willkommen. Aber staatliche Subventionen für Siedlungen entsprechen nicht dem Konsens der Bewegung", fügt sie hinzu. "In der Vergangenheit haben wir in Israel immer gegeneinander demonstriert. Links gegen Rechts, Religiöse gegen Nichtreligiöse. Aber jetzt kämpfen wir alle gemeinsam", erklärt Stav. Die Einheit aller Israelis sei wichtiger als das trennende politische Element.
Erweiterter Aktionsradius
Auch wenn sie nicht genau weiß, wie lange ihr Körper das alles noch mitmacht, ist eines für sie sicher: "Wir machen weiter, bis wir eine Lösung finden." Für dieses Wochenende sind Demonstrationen an der Peripherie Israels geplant. "Damit die Leute ihre Seifenblasen in Tel Aviv und Jerusalem verlassen", sagt sie. So soll der Zusammenhalt zwischen dem Protestzentrum und anderen Gegenden gestärkt werden.
Als Endziel hat sich die junge Anführerin viel vorgenommen. "Wir wollen das Wirtschaftssystem in Israel von Grund auf ändern. Aus einer gespaltenen Gesellschaft schaffen wir eine geeinte." Eine Eskalation der Proteste wird dabei nicht ausgeschlossen, sagt Aya Shoshan, die Vertreterin des Rothschild-Camps in Tel Aviv. "Wir hoffen, es eskaliert. Wir können Straßen und die Eingänge zu Regierungsgebäuden blockieren oder Banken boykottieren. Es gibt eine Fülle an Ideen." Für Montag wurde eine Notfallsitzung des israelischen Parlaments einberufen, wohl auch um Szenarien wie diese abzuwenden.
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