Proteste in Israel: "Weder faul noch verwöhnt"
An diesem Wochenende sind die Israelis in die Provinz gefahren um zu protestieren. Immer mehr politisch brisante Fragen rücken in den Mittelpunkt.
JERUSALEM/BEER SCHEVA taz | "Wir wollen die Leute aus ihren Seifenblasen hinaus bringen", erklärte die junge Protestführerin Stav Shafir Ende vergangener Woche. Und genau das ist Samstagabend passiert. In mehr als 50 Bussen sind Aktivisten aus den Großstädten Tel Aviv und Jerusalem in die israelische Peripherie gefahren, um landesübergreifende Solidarität und Einheit zu zeigen. Größere Proteste gab es in Haifa, Beer Scheva und Afula. In 14 weiteren Städten wurden kleinere Kundgebungen abgehalten. Insgesamt gingen rund 75.000 Menschen auf die Straße.
Zwei Stunden vor Beginn der Demonstration werden in Jerusalem gerade noch die frisch gedruckten Transparente präsentiert. Der neue Slogan darauf: "Ohne Jerusalem und Peripherie, keine soziale Gerechtigkeit!" Währenddessen fahren schon die ersten Reisebusse neben dem Zeltlager vor. Sie sollen rund 400 Leute aus Jerusalem in die südliche Stadt Beer Scheva bringen.
Die Aktion sei eine Antwort auf viele böse Anschuldigungen der Regierung, sagt Yael, eine Koordinatorin des Nationalen Studentenverbands. "Angeblich wollen wir alle in den Stadtzentren wohnen, teuer essen und es uns in den Zelten gemütlich machen", spottet sie die Zuschreibungen von Seiten mancher Politiker. "Aber heute zeigen wir, dass wir weder faul noch verwöhnt sind", sagt sie.
Die Proteststimmung taut an diesem Samstag nur langsam auf. Im Bus nach Beer Scheva ist es noch ganz ruhig. Kein Jubel und keine Musik. Nur hie und da werden Gespräche geführt. "Kurz vor Mitternacht fahren wir wieder zurück. Wer zu spät kommt, hat Pech gehabt", warnt eine Stimme durchs Megaphon. Die Sprecherin ist die Studentin Sharon. Auch sie wohnt in Jerusalem im Zelt. "Eine Qual", meint sie. "Ich arbeite jeden Tag. Wenn ich am Abend zurück komme, haben wir im Zeltlager bis spät am Abend Versammlungen. Und der Schlaf ist dort auch nicht gerade großartig." Aber die Anstrengung zahle sich aus. Dieses Wochenende hätten sie über den Entwurf der offiziellen Forderungen abgestimmt. "Jetzt liegt das Dokument wieder in Tel Aviv, wo die Protestführung unsere Anregungen einarbeitet", erklärt sie. Unterdessen verteilt ihre Kollegin gratis T-Shirts, mit dem Logo der Studentenunion darauf.
Arabische Schilder tauchen auf
Nach eineinhalb Stunden Fahrt trifft der Protestbus in Beer Scheva ein. Die Menschen strömen schon durch die Straßen in Richtung Rager Boulevard zur Kundgebung. Langsam hebt sich auch die Stimmung. Ein kleiner Junge rennt euphorisch neben dem Bus her und schwingt ein Transparent über seinem Kopf. Die 400 Aktivisten, die in acht Bussen aus Jerusalem angereist sind, marschieren zum Platz hinüber, wo sich rund 20.000 Israelis vor einer Bühne versammelt haben.
"Es gibt kein jüdisch und kein arabisch. Auch kein Zentrum und keine Peripherie. Es gibt nur eines: Gerechtigkeit!", heizt der Aktivist Haim Bar Yaakov von der Bühne ein. Die Menge erwidert seine Worte und jubelt ihm mehrmals mit "Das Volk will soziale Gerechtigkeit" zu. Immer wieder tauchen arabische Schilder zwischen den hebräischen auf. Beinahe alle Bühnensprecher betonen die jüdisch-arabische Einheit. Das zeigt vor allem eines: Die Protestbewegung in Israel wird zunehmend politisch.
Ging es am Anfang noch um teure Wohnungen, rücken jetzt immer brisantere Fragen in den Mittelpunkt. "Das hier ist ein politischer Kampf. Und ich habe keine Angst davor, es laut zu sagen. Araber, Juden, Religiöse, Nicht-Religiöse: Wir alle kämpfen gemeinsam", ruft die Musikerin Achinoam Nini unter Beifall der Massen von der Bühne.
Mit politischem Kampf sind besonders auch Themen gemeint, die bisher von der Bewegung vermieden wurden. In der Negev Wüste, nicht weit von Beer Sheva, leben etwa rund 180.000 Beduinen. Viele von ihnen wohnen in Dörfern wie al-Arakib, das für die israelischen Behörden illegal ist. Dort werden laufend Zelte und Gebäude zerstört, weil die alten Baugenehmigungen der Beduinen von Israel nicht anerkannt werden. "Wir wollen zeigen, dass arabische Beduinen und jüdische Israelis ähnliche Probleme haben", sagt die Israelin Haia Noach, deren Organisation "Dukium" sich für das Zusammenleben von Arabern und Juden in der Negev einsetzt.
Auf ihrer Brust klebt ein Sticker mit der Aufschrift "Wir sind alle al-Arakib". Das Wohnproblem in Israel müsse jüdische und arabische Israelis verbinden, sagt sie. Ein befreundeter Beduine stimmt ihr zu. "Wir sind alle eine Basis", meint er. Für Haia ist diese Demonstration jedenfalls ein Wendepunkt. "Die politischen Themen rücken immer mehr in die Mitte", sagt sie. Jeder wisse, dass Fragen wie Gerechtigkeit zwischen jüdischen und arabischen Israelis im Raum stehen. "Und irgendwann muss die Bewegung sie auch ansprechen."
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