Proteste in Bulgarien: Das Volk belagert seine Vertreter
Nur die Polizei konnte die Belagerung des Parlaments in Sofia durch Demonstranten beenden. Der Protest gegen den „Roten Müll“ geht weiter.
BERLIN taz | Bulgariens Innenminister Tswetlin Jowtschew wurde am Mittwoch deutlich: „Das, was sich vor dem Parlament ereignet hat, war kein Protest, sondern gleicht einer progromähnlichen Erfahrung“, sagte er laut des bulgarischen Nachrichtenportals mediapool.
Am Dienstagabend hatten Hunderte aufgebrachte Demonstranten fast neun Stunden lang die Volksversammlung im Zentrum der Hauptstadt Sofia blockiert. In dem Gebäude hatten mehr als 100 Personen festgesessen, darunter drei Minister und Dutzende Abgeordnete. Am frühen Morgen lösten Polizeikräfte die Proteste gewaltsam auf und befreiten die Eingeschlossenen.
Dabei wurden mindestens 18 Menschen verletzt. Auch am Mittwoch versammelten sich unter Rufen wie „Rücktritt!“ und „Roter Müll!“ wieder Demonstranten vor dem Parlament. Dessen Präsident hatte noch in der Nacht eine Sitzung am Mittwoch abgesagt, um „das Leben und die Gesundheit der Volksvertreter“ nicht zu gefährden.
Die Parlamentsblockade ist der vorläufige Höhepunkt von Demonstrationen gegen Regierung des parteilosen Plamen Orescharski. Das Kabinett aus Sozialisten (BSP) und der Partei der türkischen Minderheit DPS ist nach den Wahlen am 12. Mai erst seit zehn Wochen im Amt und mangels Mehrheit auf die Unterstützung der nationalistischen Partei Ataka angewiesen.
Zwielichtiger Medienmogul
Auslöser der Protestwelle, die bereits seit 40 Tagen andauert, war die Wahl des zwielichtigen Medienmoguls Deljan Peewski zum Chef des mächtigen Geheimdienstes Dans am 14. Juni. Peewski, der bereits von 2005 bis 2007 Vizeminister in der damaligen sozialistischen Regierung war, werden enge Beziehungen zu bulgarischen Oligarchen nachgesagt.
Zwar machte die Regierung nur wenige Tage später ihre Entscheidung rückgängig und berief Peewski von seinem Posten ab. Dennoch gingen die Proteste weiter. Sie richten sich nunmehr vor allem gegen die immer noch weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft im Land. Zudem fordern die Demonstranten Änderungen des Wahlgesetzes. Diese sollen sicherstellen, dass mehr kleine Parteien im Parlament repräsentiert sind.
Staatspräsident Rossen Plewneliew rief die Demonstranten am Mittwoch auf, „friedlich und zivilisiert“ zu bleiben. Demgegenüber schwieg sich Regierungschef Orescharski zu den Krawallen vor dem Parlament zunächst aus. Der Chef der BSP, Sergei Stanischew, lehnte einen Rücktritt der Regierung kategorisch ab. Das könne seine Partei nicht akzeptieren, sagte er.
Ernsthaftigkeit der Situation nicht begriffen
Demgegenüber mehren sich die Stimmen, die Neuwahlen fordern. Der Druck habe ein Ausmaß angenommen, das sofortiges Handel erfordere. Offensichtlich hätten die Politiker die Ernsthaftigkeit der Situation nicht begriffen, sagte Plamen Dimitrow, ein führender Gewerkschaftler.
Ob Neuwahlen jedoch einen Ausweg aus der Krise bedeuten könnten, ist fraglich. Zwar sind laut letzten Umfragen 58 Prozent der Bulgarien für einen Rücktritt der Regierung. Beobachter gehen jedoch davon aus, das sich auch nach Neuwahlen an der Zusammensetzung des Parlaments kaum etwas ändern würde.
Bulgarien, das seit 2007 der EU angehört, ist der ärmste Mitgliedstaat. Bei Durchschnittsgehältern von umgerechnet 200 Euro und steigender Arbeitslosigkeit ist die Hälfte der Bevölkerung von akuter Armut bedroht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader