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taz FUTURZWEI

Proteste gegen „Die da oben“ Klagen, Klagen, Klagen

Jeder Bauer weiß heute, wie man maximale Aufmerksamkeit produziert. Die Klagearbeit mag berechtigt sein, aber sie bringt nichts. Eine Gegenklage.

Ritter Kunibert is not amused Foto: Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow

taz FUTURZWEI | In Sidney Lumets Film Network fordert der Nachrichtenmoderator Howard Beale seine Zuschauer auf, ans Fenster zu gehen, die Köpfe herauszustecken und zu schreien: „Ihr könnt mich alle am Arsch lecken, ich lass mir das nicht länger gefallen!“ Eigentlich wollte Beale sich, nachdem ihm gekündigt worden war, vor laufender Kamera umbringen, doch dann beschloss er, seine Hilflosigkeit in Form von Wut in die Welt zu schleudern: Wut über Arbeitslosigkeit und Inflation, die Zunahme von Verbrechen und Umweltverschmutzung, Wut, die in der Diagnose gipfelt: „Die Zeiten sind mies, sie sind schlimmer als mies!“ Erst mal also sollten sie jetzt sofort alle gemeinsam schreien und dann, so Beale, könne man immer noch schauen, was gegen Depression und Inflation zu tun sei. Und so riss sein Publikum landauf, landab die Fenster auf, schrie sich die Seele aus dem Leib und bescherte dem labilen Mittsechziger jene Traumquoten, die prompt seine Weiterbeschäftigung garantierten.

Lumets luzide Mediensatire aus dem Jahr 1976 ist nicht bloß gut gealtert – sie ist gar nicht gealtert: Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, versetzen auch und gerade heute ihren Zorn mit vielem, worauf es sich sonst noch alles zornig sein lässt, und blasen ihn, mediengerecht aufbereitet, als Imperative in die Welt. Seht hin, horcht auf und tut was! So weit, so Bauernproteste.

Einmal mehr hat sich hier gezeigt, wie sich mit dem Auffahren von (hier durchaus im Wortsinn) schwerem Gerät Aufmerksamkeit erzwingen lässt: Ja, die Welt, also wir alle, sehen und hören hin, wenn tausende Traktoren unter lautstark asynchronem Gehupe Berlin belagern. Was aber sollen wir tun?

Sichtbarkeit als Währung

Frei nach Howard Beale schien es den Bauern darum zu gehen, erst mal maximale Aufmerksamkeit herbeizuhupen; was genau gegen höhere Treibstoffpreise, die Ampel an sich und den eigenen Bedeutungsverlust zu tun wäre, kann man dann ja immer noch schauen. Es geht also auch hier zunächst – oder zuvorderst – um Sichtbarkeit. Sie ist die It-Forderung in einer Zeit, die sich keine Vorstellung von etwas machen will, wovon sie kein Bild gesehen oder produziert hat.

So wurden, um die kollektive Liebe zu Generalismen aufzugreifen, die Politik und die Medien angesichts der Bilder der bäuerlichen Brachialproteste auch nicht müde zu betonen, dass die Landwirtschaft und ihre Verdienste einfach nicht gesehen und damit nicht gewürdigt werden. Das ist sicher richtig. Richtig ist jedoch auch, dass unser aller Sichtfeld schon rein anatomisch begrenzter ist als der möglicherweise vorhandene Wahrnehmungswille.

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Wie Leuchtpunkte beim Augentest blinken immer neue Aufregerthemen in unserem Sichtfeld, um dort rasch zu verglühen. Gegen dieses Verglühen kämpft eine Bilder- und Empörungsproduktion an, die Aktivismus jedweder Couleur heute bestimmt und beschreibt. Reichweitenstarke Kampagnen und Bewegungen der letzten fünf Jahre – von Fridays for Future über #BlackLivesMatter bis hin zu selbsternannten Querdenkern und besorgten Bürgern – konnten das eindrucksvoll bestätigen. Sie haben Gewissheiten erschüttert, Machtverhältnisse umsortiert und Fortschritt ermöglicht – oder gezielt behindert.

Massenbewegung mit maximalem Glamour

Als Wirkungsbeifang haben sie dabei jedoch auch maximale Sichtbarkeit als Wert und Ziel an und für sich und für nahezu alles als beklagenswert Erachtete zementiert. Schon klar, Georg Francks Büchlein mit seinem zu Tode zitierten Titel Die Ökonomie der Aufmerksamkeit erschien bereits 1998, und dass Klappern zum Handwerk gehört, war bereits den Webern und Müllern im Mittelalter bekannt. Sehr lange also, bevor die Werber und PR-Leute den Spruch in den 1950er-Jahren zu ihrem claim to fame machten und ihre Enkel im digitalen Raum schließlich das Klappern selbst zu ihrem Influencer-Handwerk machten.

#MeToo jedoch konnte ab Herbst 2017 einen neuen Maßstab in Sachen aktivistischer Wirkmacht setzen. Das allerdings nicht als #MeToo-Debatte, wie sie bis heute fälschlich bezeichnet wird – es gab keine nennenswerte Gegenposition zu Schilderungen und Forderungen der Betroffenen –, sondern als im digitalen Raum geprägte Massenbewegung mit maximalem Glamour und einer neuen aktivistischen Tonalität. Den Glamour lieferte das Hollywood-Personal als Initiatorinnen, Chronistinnen und Verstärkerinnen, die neue Tonalität war von einem millionenfach in sozialen Medien sprechenden Ich bestimmt, das mit den Übergriffen immer auch die persönliche Versehrung beschrieb.

Dann kam Corona. Und mit einem Mal fielen wir alle einem so unheimlichen wie verunsichernden Gegner zum Opfer. Zoom avancierte zum Kommunikationsformat der pandemischen Stunde. Konkret bedeutete das unter anderem, dass die schweigenden Menschen und das eigene schweigende Ich auf Sammelkachelgröße schrumpften. Allein das jeweils sprechende Ich schwoll auf Bildschirmgröße an. Und sprechen, das hieß während der Covid-Jahre zumeist: klagen. Weil diese Jahre schlicht scheiße waren und weil sich ins Netz hinein besonders gut klagen ließ. In Ermangelung lebendiger Resonanzräume avancierten jedes Like und jedes Herz, das man für seine online gestellten Klagen erhielt, zu Unterstützung und dem Gefühl, verstanden zu werden. Und in eben dem Maße, wie sich die Klage individualisierte, wurden die Adressaten ins Diffuse kollektiviert, ob die Politik, die Eliten, die da oben oder all jene, die wahlweise links oder rechts von der eigenen Selbstverortung marodieren.

Vom Netz ins richtige Leben

Die Welt, das waren neben jenen auf Kachelmaß verkleinerten digitalen Gesprächspartnern vor allem das auf Doom-scrolling-Geschwindigkeit beschleunigte Geschehen im Social-Media-Feed. Ich, das war oft vor allem die Selbstwahrnehmung als maximal leidtragende Person. Selbstmitleid als Identitätsräson hat den Wechsel von der pandemischen in die endemische Phase mitvollzogen.

So wie weiterhin kaum eine Mail ohne „Ich hoffe, es geht dir gut …“ beginnt, gibt es bis heute kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die sich nicht als die am schlimmsten von der Pandemie Betroffene beschreibt oder beschrieben wird. Und ja, alle hatten und haben recht: Es war schrecklich für fast jeden und jede von uns. Warum aber beziehen wir uns nicht direkt auf dieses Uns, also auf ein Wir, das, so individuell wie global, eine beschissene Zeit hatte? Warum messen und vergleichen wir die Schwere unseres Leides, wie es die sogenannte Knochentaxe tut, die etwa den Verlust eines Beines, je nach Abtrennungshöhe, zwischen 45 und 70 Prozent verortet, und den eines Auges mit 50 Prozent, um den Grad der, ebenfalls sogenannten, Invalidität zu verorten? Als invalide, also wertlos, erfahren sich mehr und mehr Menschen und streben, erfolgreichen Hashtag-Kampagnen nacheifernd, nach einer auf demselben digitalen Klageweg erreichbaren Sichtbarkeit. Ob Krankheit, Überforderung und Ausgrenzung jedweder Art – der Klagemodus lässt sich so aufwandsarm in den Aggromodus hochregeln, wie sich ein rant online stellen lässt.

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

Zur neuen Ausgabe

Kein Wunder, dass die Ausdehnung der Klagezone aus dem omnipräsenten Internet in das, vielen ohnehin eher lästig gewordene, richtige Leben geschwappt ist. Da trifft die offensiv leistungsfeindliche Weinerlichkeit einer sich mit Buchstaben als Selbstbezeichnung abspeisenden Generation, in einem absurd anmutenden Hufeisenschwung, mit der ihrer als Boomer geschmähten Eltern oder Großeltern aufeinander. Diese Demnächst-Rentner in Altersteilzeit beklagen für die Dauer ihrer Restarbeitszeit die Gefahren der KI in eben dem Maße, wie es ihren Kindeskindern vorm Telefonieren graut.

Unbezahlte Klagearbeit

Die, vor allem von Frauen im echten Leben verrichtete, unbezahlte Sorgearbeit ist Gegenstand vieler in der digitalen Welt geführten Klagen. Die vergleichbar aufwendige unbezahlte Klagearbeit hingegen, wird klaglos vollzogen. Der return on investment liegt in der erwirtschafteten Sichtbarkeit bei der likenden peer group und den, aus Sicht der Klagenden, dauerversagenden Institutionen.

Die Menschen in Regierungsverantwortung, wahlweise als die Politik zwangskollektiviert oder als die Ampel verdinglicht, haben sich daher längst angewöhnt, Klagen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen oder dies zumindest vorzugeben. Sie sind im Reaktionsmodus eingerastet, denn wer klagt, schafft an.

Auf Klage reagieren ist, wie das Klagen selbst, zugleich erfolgversprechender und risikoärmer als das Handeln. Im Netz kann man ohnehin nicht handeln, allenfalls Handel betreiben, ob mit Meinungsware, Klageware oder Wareware, und der sogenannte call to actionist nichts als eine Verkaufsaufforderung. Gemäß dem Vintagewitz zum Beamtenmikado hat heute einmal mehr verloren, wer sich als Erstes bewegt. Handeln ist riskant, es schafft Fallhöhe. Wer klagt, befindet sich hingegen bereits am Boden.

Klagen ist das Gegenteil von Aktivismus

Ja, dies ist eine Klage der Klage. Nicht weil klagen unberechtigt wäre, sondern weil es niemanden weiterbringt. Die Klagenden nicht, die mit der Klage Konfrontierten genauso wenig und das Beklagte am allerwenigsten. Klagen ist das Gegenteil eines Aktivismus, der diesen Namen verdient. Klagen führt zielgenau in jene Schwäche, von der sich die Klagenden befreien wollten. Sichtbarkeit mag eine Währung sein, aber ihre Kaufkraft ist volatil.

Howard Beale übrigens wurde folgerichtig, nachdem das Publikumsinteresse abgeflaut war, im Auftrag der Senderchefs vor laufender Kamera erschossen. Seine Idee, das Publikum aufzufordern, aus ihren Fernsehsesseln aufzustehen, die Fenster zur Welt zu öffnen und den Kopf herauszustecken, war im Grunde jedoch schon toll. Wie es gehen kann, wenn sehr viele Menschen zum Beispiel für die Demokratie aufstehen und das Klagen und die Partikularinteressen hinter sich lassen, ist 2024 landauf, landab auf bundesdeutschen Straßen und Plätzen zu sehen.

Ja, die Zeiten sind mies, sie sind schlimmer als mies. Sie zu wenden, statt sie zu beklagen, wäre das nicht so richtig aufregend?

HEIKE-MELBA FENDEL ist Autorin und Geschäftsführerin der Agentur Barbarella Entertainment.