Protestanten jüdischer Herkunft in der NS-Zeit: Verdrängte Judenmission
Ingrid Kropidlowski war acht, als die Nazis sie deportierten: Die evangelische Kirche schickt sich an, an die vergessene Opfergruppe der Christen jüdischer Herkunft zu erinnern.
Am Buß- und Bettag 2002 hielt Bischof Wolfgang Huber in der Pauluskirche Berlin-Zehlendorf eine Predigt "zum Gedenken an das Schicksal von Christen jüdischer Herkunft in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur". Er benannte darin den kläglichen Opportunismus der evangelischen Kirche, die an der Entrechtung der Juden in Deutschland mitgewirkt hatte. Der Ratsvorsitzende der EKD rief die Gemeinden dazu auf, sich über das Schicksal ihrer Mitglieder jüdischer Herkunft kundig zu machen. Daraufhin wurde der Arbeitskreis Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus gegründet. Er wird zum 9. November eine Publikation vorstellen, in der zehn Berliner Gemeinden darüber berichten, was sie bei ihren Recherchen in den Gemeindebüchern über die vergessenen Gemeindemitglieder herausfinden konnten.
In der inzwischen vor allem bei jungen Touristen und Neu-Berlinern beliebten Kastanienallee machen es viele unrenovierte Fassaden leicht, sich das mythische Ostberlin der Nachwendezeit vorzustellen. Wer genauer hinsieht, kann allerdings noch viel weiter in die Vergangenheit zurückblicken. Über dem Eingang im Haus Nummer 22 prangt ein verblasster Schriftzug, in einem längst vergessenen Stil auf die Wand aufgetragen. Er verweist auf die Messias-Kapelle, die sich noch heute hier befindet, wo einst die Judenmission der evangelischen Landeskirche, die "Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden", ihren Sitz hatte. Sie wurde 1822 gegründet und 1941 durch die Gestapo verboten.
Heute ist die Gesellschaft so vergessen wie die vielen evangelisch Getauften jüdischer Herkunft, die von ihrer Kirche ausgeschlossen und aus der "Volksgemeinschaft" ausgesondert wurden. Weil die Kirchengemeinden "Deutschblütigen" vorbehalten werden sollten, verwiesen viele Gemeinden Taufwillige an die Missionsgesellschaft. Am liebsten hätte man gleich eine eigene Juden-christliche Gemeinde eingerichtet, wozu es allerdings nie kam. 86 der 704 während der Nazizeit in der Messias-Kapelle Getauften wurden deportiert.
Die Bankrotterklärung der Landeskirche und vieler Gemeinden macht verständlich, warum die evangelisch Getauften heute "eine völlig verdrängte Opfergruppe" des Naziregimes darstellen, wie Gerlind Lachenicht sagt. Die Soziologin leitet den Arbeitskreis Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Dort haben Berliner Kirchengemeinden es in die Hand genommen, das Schicksal ihrer Mitglieder jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus zu erforschen und an diejenigen zu erinnern, die man früher vergessen wollte.
Allein die Tatsache, dass womöglich die eigene Gemeinde vor 70 Jahren ein Ort war, den Leute mit dem gelben Stern am Mantel nicht mehr betreten durften, sollte für Christen wenig erträglich sein. Das aber mache die Erinnerung an diese Zeit schmerzlich und treffe "den Nerv der eigenen Identität", schreibt Lachenicht in einem Aufsatz im Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte, in dem sie weitere "Erinnerungsbarrieren" ausmacht. Zu ihnen gehört etwa die Unterstellung, Juden, die sich in dieser Zeit taufen ließen, hätten sich nur retten wollen, die Überzeugung aber habe gefehlt.
Tatsächlich war der nationalsozialistischen Bürokratie aber vollkommen gleichgültig, ob jemand getauft war oder nicht, "Judentaufen" waren zu keinem Zeitpunkt verboten. Es zählte die Religionszugehörigkeit der Eltern und Großeltern, die als Kriterium für rassische Einstufung durch die Bürokratie herhalten musste, obwohl sich der staatliche Rassismus vermeintlich auf wissenschaftliche Kriterien stützte. Inwiefern Taufe dennoch vor Verfolgung schützte, ist weitgehend unerforscht. Möglicherweise hat eine Taufe vor allem dort die Entscheidungen der Behörden beeinflusst, wo Ermessensspielraum herrschte: im Fall der sogenannten Mischehen zwischen "Ariern" und "Halb-" oder "Volljuden" und Kindern aus solchen Ehen, die als "Mischlinge" eingestuft wurden.
Bei ihren Recherchen ist Gerlind Lachenicht auf Ingrid und Ruth Kropidlowski gestoßen. Ihr Schicksal steht beispielhaft dafür, wie entscheidend die Präsenz oder Abwesenheit eines "arischen" Ehepartners war. An einem von Nieselregen geprägten Frühlingstag steht Lachenicht mit einem kleinen Grüppchen auf dem Gehweg vor dem Haus Strelitzer Straße 25 in der Rosenthaler Vorstadt. Einige Mitglieder der örtlichen Gemeinde St. Elisabeth sind darunter. Zwei neue Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig werden eingeweiht, von denen in Berlin nun 1.774 verlegt worden sind. Die beiden neuen Steine erinnern an Ingrid und Ruth Kropidlowski. Mutter Ruth war 30, ihre Tochter Ingrid 8 Jahre alt, als sie am 17. Juni 1943 deportiert wurden.
Ingrids Vater war da bereits ein Jahr tot, der Autoelektriker Ferdinand Kropidlowski starb mit 29 unter unbekannten Umständen. Ruth Kropidlowski stammte aus der jüdischen Familie Jacoby, ihr "arischer" Mann Ferdinand trat nach der Hochzeit der Jüdischen Gemeinde bei. Tochter Ingrid wurde anfangs jüdisch erzogen. 1939 verließ Ferdinand die Jüdische Gemeinde jedoch wieder und wurde evangelisch, seine Frau Ruth tat es ihm nach. Tochter Ingrid wurde im März 1941 getauft.
Ein Jahr lang konnte Ingrid in die Sonderklasse für christliche Kinder jüdischer Herkunft der Ersten jüdischen Volksschule in der Kaiserstraße am Alexanderplatz gehen. Doch als sogenannter "Geltungsjüdin" war ihr das ab Sommer 1942 nicht mehr erlaubt. Die Einstufung als "Mischling 1. Grades", die einige vor Deportation und Ermordung bewahrte, wurde nur denjenigen zugestanden, die "nicht zum Judentum tendierten", also nicht der jüdischen Gemeinde angehörten sowie getauft und christlich erzogen waren. Allerdings musste die Taufe vor Erlass des Reichsbürgergesetzes vollzogen worden sein.
Für Ingrids Taufe wäre die Gemeinde St. Elisabeth zuständig gewesen. Doch beide Pfarrer der Gemeinde gehörten den Deutschen Christen an. Letztere nennt Gerlind Lachenicht schlicht den "Stoßtrupp der NSDAP in der evangelischen Kirche". Die Deutschen Christen waren bereits 1932 zu den Preußischen Kirchenwahlen mit einem Programm angetreten, in dem die Judenmission "als schwere Gefahr für unser Volkstum" bezeichnet wurde: "Sie ist das Eingangstor fremden Bluts in unseren Volkskörper." In der evangelischen Kirche tobte seit 1934 ein erbitterter Kampf zwischen Deutschen Christen und den Anhängern der Bekennenden Kirche. Der Gemeindekirchenrat von St. Elisabeth bezog im Kirchenkampf eindeutig Position und beschloss schon im September 1935, "Judentaufen" zu untersagen, Ingrid Kropidlowski konnte hier also nicht getauft werden.
So betrieb die Avantgarde der Nazi-Christen frühzeitig und mit Eifer den Ausschluss von Christen jüdischer Herkunft aus ihren Gemeinden. Diese Praxis wurde aber bald offizielle Politik, so wie es der Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten Hanns Kerrl dem Evangelischen Oberkirchenrat nahegelegt hatte: Das Konsistorium, die Verwaltungsbehörde der Landeskirche, wies die Pfarrer 1939 an, dass Taufen von Juden nur noch durch die erwähnte evangelische Missionsgesellschaft vorzunehmen seien.
Schon Anfang der Dreißigerjahre hatte die evangelische Landeskirche "aus Sorge um die Rasseverschlechterung" die finanzielle Unterstützung für ihre Mission eingestellt. Weil sich die Situation der Missionsgesellschaft ständig verschlechterte, nahm sich die Segens-Gemeinde, zu deren Gebiet die Messias-Kapelle in der Kastanienallee gehörte, ihrer Belange an. Ihr Pfarrer Otto Mähl bat während der Gottesdienste um Spenden für die Judenmission. Mähl widersetzte sich 1938 aber auch an einem weitaus entscheidenderen Punkt dem Konsistorium. Er protestierte nämlich dagegen, die frühere jüdische Religionszugehörigkeit bei Eintragungen in das Taufbuch zu vermerken, wie es eine staatliche Verordnung von 1937 forderte. In einem Brief an das Konsistorium schrieb er: "Wir haben die Frage nach der Konfession, nicht die Frage nach der Rasse zu beantworten."
Andere, wie der Berliner Pfarrer Karl Themel, der die "Kirchenbuchstelle Alt-Berlin" betrieb, fahndeten in den Kirchenbüchern hingegen energisch nach Juden. Der "Reichsstelle für Sippenforschung" konnte Themel in 2.612 Fällen Nachweise für die jüdische Abstammung evangelischer Christen übermitteln. Er leistete so mit Eifer die Vorarbeit für Deportation, Selektion und Mord.
Das Verbot der Missionsgesellschaft und die Schließung der Messias-Kapelle im Jahr 1941 stellte die Landeskirche aber auch vor ein Problem: Die Theologen des Konsistoriums fragten sich, wer nun für taufwillige "Nichtarier" zuständig sei. "Wie die Dinge liegen, kann doch wohl am besten abgewartet werden, ob nicht das im Werke befindliche Abschieben der Juden die ganze Frage gegenstandslos macht", heißt es dazu in einem handschriftlichen Vermerk in den Akten. Die opportunistische Haltung der Kirche hinderte einzelne aufrechte Pfarrer nicht daran, in den eigenen Gemeinden weiter zu taufen.
Ingrid Kropidlowski erhielt das Sakrament von Pfarrer Kittlaus in der benachbarten Versöhnungsgemeinde. Das evangelische Mädchen wurde nach Theresienstadt deportiert. Wer heute den Blick von ihrem kleinen goldenen Gedenkstein hebt, kann am Ende der Strelitzer Straße die Kirche St. Elisabeth sehen, in der Ingrid nicht willkommen war.
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