Protest gegen Stuttgart 21: Chronik des Schwabenstreichs

Trillerpfeifen, Polizeigewalt und die Geißler-Schlichtung: Die Chronik des Protests gegen Ministerpräsident Stefan Mappus und die CDU-Herrschaft.

Die frechen Schwaben: Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" Anfang März in Stuttgart. Bild: dpa

STUTTGART taz | Auf der Wiese neben dem Landtag sind Absperrgitter der Polizei an Bäume gekettet. Sie gehören wie selbstverständlich zum Stadtbild. Sie stehen dafür, wie sich Stuttgart verändert hat. Innerhalb eines halben Jahres wurde aus Stuttgart die Demohauptstadt Deutschlands.

Als am 10. Februar 2010 Stefan Mappus (CDU) als neuer Ministerpräsident seinen Amtseid leistet, erbt er ein Projekt, dessen Idee schon während der Regierungszeit von Lothar Späth Ende der achtziger Jahre geboren und vom Mappus-Vorgänger Günther Oettinger abgesegnet wurde. Doch erst unter Mappus fängt der Protest gegen den Tiefbahnhof Stuttgart 21 zu brodeln an.

Anfang Februar 2010 beginnt auch der Bau des Mammutprojekts. "Erst da wurde vielen Bürgern klar, dass der Bahnhof tatsächlich gebaut wird", sagte damals Gerhard Pfeifer vom BUND. Doch auch im Frühjahr 2010 ahnte noch keiner, was folgen sollte: ein Protestsommer, wie ihn Stuttgart noch nie erlebt hat.

ARD (infratest dimap) - 19.04 Uhr:

CDU 39,4 % (60 Sitze) / 2006: 44,2 %

SPD 23,1 % (35) / 2006: 25,2 %

GRÜNE 24,0 % (36) / 2006: 11,7 %

FDP 5,1 % (8) / 2006: 10,7 %

LINKE 2,8 % (-)

***

ZDF (forsa) - 19.08 Uhr:

CDU 39,0 % (64 Sitze) / 2006: 44,2 %

SPD 23,1 % (37) / 2006: 25,2 %

GRÜNE 24,3 % (39) / 2006: 11,7 %

FDP 5,1 % (8) / 2006: 10,7 %

LINKE 2,8 % (-)

Es war im Juli, kurz vor einer lange geplanten Großdemonstration im Schlossgarten, als ein Gutachten der Züricher Firma SMA aufhorchen ließ. Die Botschaft: Das Großprojekt hat zentrale Mängel, die Infrastruktur ist knapp dimensioniert, Engpässe und verlängerte Fahrzeiten drohen. Entscheidend aber war die politische Botschaft. Denn das Gutachten war bereits zwei Jahre alt, die Landesregierung hatte es geheimhalten wollen. "Dieses Gutachten war ein wichtiger Motor für den Protest", sagt Simone Lang, seit einem Jahr gegen Stuttgart 21 aktiv ist.

Drei Wochen später bekommen die Projektträger erstmals die Mobilisierungskraft der Gegner zu spüren. Als die Bahn am letzten Juli-Wochenende die ersten Bauzäune vor dem Nordflügel aufstellen lässt, kommen sofort Hunderte von Demonstranten zusammen. Von nun an steht Stuttgart Kopf.

Der Schauspieler Walter Sittler erfindet den Schwabenstreich und stellt sich täglich um 19 Uhr mit Trillerpfeife eine Minute lang auf die Straße. Bald machen es ihm Tausende Bürger nach. Nicht nur in Stuttgart. Auch in Berlin, Bielefeld - und selbst in New York auf dem Times Square. Es sind Umweltschützer, Grüne, Exil-Schwaben, engagierte Bürger für mehr direkte Demokratie, die sich mit den Stuttgartern solidarisieren. Beim Aktionstraining üben die sonst so anständigen Schwaben, wie Sitzblockade und Baumbesetzung geht. Und alle warten auf den Tag X.

Wann rollt der erste Bagger an und reißt den Nordflügel ab? Die Protestbewegung hat ein Alarmsystem eingerichtet. Mit einer Dauermahnwache beobachten die Gegner Tag und Nacht, was an "ihrem" Bahnhof passiert. Über eine Infokette werden alle Gegner per SMS, Telefon und via Internet informiert. Einige Arbeitgeber haben ihren Angestellten sogar vorsorglich protestfrei für den Tag gegeben.

Bald trägt die ganze Stadt Buttons an der Jacke. Wer in der U-Bahn denselben Button trägt, kommt ins Gespräch. Wer den Button der Feinde trägt, wird angegiftet.

In der Berliner Politik reden auf einmal alle vom Bahnhof. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) macht Stuttgart 21 zur Chefsache. Einen Volksentscheid lehnt sie in einer Bundestagsdebatte am 15. September entschieden ab. Dafür gebe es die Landtagswahl. "Die wird genau die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein", sagt sie. Das verstehen die Gegner als Aufforderung. Die "Mappus weg"-Rufe werden noch lauter.

Der Ministerpräsident gerät unter Zugzwang. Bereits Ende August hatte er sich mit seinem grünen Kontrahenten Winfried Kretschmann an einen Tisch gesetzt. Beide wollen eine schwarz-grüne Streitschlichtung vorantreiben. Doch die Annäherungsversuche im September scheitern schnell. Die eine Seite spricht von "Berufsdemonstranten", die andere vom "Lügenpack". "Mir ist der Fehdehandschuh hingeworfen worden, ich nehme ihn auf", sagte Mappus am 18. September auf dem Landestag der Jungen Union.

Was Politik und Polizei in Hinterzimmern von langer Hand planten, wird ein Desaster für alle Beteiligten. Die ernüchternde Bilanz nach dem brutalen Einsatz von Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken am 30. September lautet: 25 gefallene Bäume. Mehr als hundert Verletzte. Vier davon schwer am Auge. Dieser brutale Einsatz war eine Zäsur.

Es musste politisch etwas passieren. Von den Grünen kommt der Vorschlag, Heiner Geißler die Aufgabe zu übergeben. In seiner Regierungserklärung am 6. Oktober nimmt Mappus den Vorschlag auf. Und dann sitzt der ehemalige CDU-Generalsekretär Geißler am 22. Oktober im Mittleren Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses und sagt um 10.04 Uhr: "Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beginnen jetzt mit der Schlichtung Stuttgart 21." In mehr als 80 Stunden wird das Projekt durchleuchtet. Integraler Taktfahrplan, Mineralquellen, Gipskeuper. Deutschland kann live zusehen, wie sich Bahnmanager, Landesminister und engagierte Bürger auf Augenhöhe duellieren.

Am Ende heißt Geißlers Zauberformel "Stuttgart 21 plus": "Einen Kompromiss zwischen Stuttgart 21 und einem Kopfbahnhof 21 kann es nicht geben", sagte er am Abend des 30. November. Stuttgart 21 müsse im Interesse der Menschen "deutlich leistungsfähiger, baulich attraktiver, umweltfreundlicher, behindertenfreundlicher und sicherer" gemacht werden. Heißt: Es wird weitergebaut.

Fast gleichzeitig mit dem Ende der Schlichtung beginnt im Landtag der Untersuchungsausschuss zum "schwarzen Donnerstag". Hat Mappus den Einsatz der Wasserwerfer angeordnet? 69 Zeugen werden befragt, 2.250 Aktenseiten durchforstet, Filmmaterial wird gesichtet. Beweise gibt es nicht. Aber Indizien. Die Kette sei in sich schlüssig, sagte am 26. Januar der Grünen-Abgeordnete Uli Sckerl. "Mappus trägt die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz." Mappus aber kann am Ende behaupten, sich der Schlichtung und dem Untersuchungsausschuss gestellt zu haben. Das Ergebnis der Schlichtung: weiterbauen. Das des Untersuchungsausschusses: keine Beweise.

Heute stellen sich S-21-Gegner immer wieder die Frage, was eigentlich gewesen wäre, wenn es die Schlichtung nicht gegeben hätte. Damals hatten sie das Gefühl, kurz vor der Entthronung von Mappus zu stehen. Dann sprach Heiner Geißler. Und die Luft war raus.

Der erste Bauzaun vom Nordflügel steht im Museum, Geißler wurde für sein Schlichtungsverfahren geehrt und die Bürger in Stuttgart sind keine Berufsdemonstranten mehr, sondern Wutbürger.

Am Wahlsonntag stehen sie, die "Wutbürger", auf dem Schlossplatz. Sie nennen ihr Public Viewing "Mappschiedsfeier". Sie sehen um 18:17 Uhr die erste Hochrechnung zur Landtagswahl. Grün-Rot hat die Mehrheit. Nach fast 58 Jahren CDU-Herrschaft ist das mehr als ein Schwabenstreich.

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