Projekt in Berlin: Wir brauchen demokratische Schulen
Wolfgang Edelstein wurde als jüdisches Kind in den 1930ern ausgegrenzt. Heute mahnt er, Kinder von klein auf Demokratie leben zu lassen.
"Ich heiße Hatun und ich mache einen Kinderclub!", ruft ein etwa zehnjähriger Junge in das Mikrofon und lacht aufgeregt. Schnell nimmt ihm sein Freund Hussein das große Blatt Papier aus der Hand, auf dem der Wunsch schwarz auf weiß dokumentiert ist.
Er schlängelt sich durch die Gruppe von tuschelnden Kindern, die sich um Hatun und das Mikrofon drängeln, und hängt ihn an eine der Pinnwände, die vor den Wänden der Turnhalle im Halboval aufgestellt sind. Die Viert- und Fünftklässler der Richard-Grundschule in Berlin-Neukölln sammeln dort Ideen, wie sie gerne ihre Nachmittage verbringen würden.
Ohne Hausaufgaben
Es ist ein Experiment, das hier läuft, die erste Initiative des seit 2006 existierenden Hamburger Vereins "Bildung ohne Grenzen" in Berlin. Das Ziel der Ideenwerkstatt für Schüler und Eltern: sinnvolle Nachmittagsangebote für die Kinder und Jugendlichen des Richardkiezes aufbauen.
Die engagierte Schulleiterin der Richard-Schule, Marita Stolt, sagt: Obwohl die Kinder nachmittags viel Freizeit haben, kommen sie doch häufig ohne Hausaufgaben und ohne richtig gepackte Schultasche in die Schule. Ein Problem, das die Richard-Schule mit vielen Schulen ihres Hintergrunds teilen dürfte: 86 Prozent ihrer Schüler stammen aus sozioökonomisch schwach gestellten Familien und 91 Prozent haben einen Migrationshintergrund.
"Die Integrationsproblematik zu lösen ist eine der größten Aufgaben in Deutschland", sagt Wolfgang Edelstein, prominenter Unterstützer des Projekts an der Richard-Schule. Edelstein ist ehemaliger Direktor des Forschungsbereichs Entwicklung und Sozialisation am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (siehe Kasten). "Wir haben dafür keine andere Institution als die Schule", sagt Edelstein. Der Schule trage eine gewaltige Verantwortung für das friedliche Zusammenleben in der Zukunft.
Wie kann man also in der Schule pädagogisch sinnvoll und produktiv damit umgehen, dass Kinder fremde kulturelle Gepflogenheiten mitbringen: andere Interaktionsformen mit Eltern, Freunden und Autoritäten, andere Lernkompetenzen, eine andere Aggressionsbereitschaft?
Wolfgang Edelstein ist überzeugt, dass Kinder nur dann an die Demokratie herangeführt werden, wenn sich die deutschen Schulen für eine andere Pädagogik öffnen; für eine Pädagogik, die es allen Schülern ermöglicht, ihr Potenzial zu entwickeln. Genau dies ist momentan nicht der Fall. "Die Schule übernimmt nicht die Verantwortung dafür, dass aus den Kindern das wird, was aus ihnen werden könnte."
Das momentane Schulsystem sei zwar stabil, aber auch autoritär, sagt der emeritierte Max-Planck-Direktor. Schulisches Versagen werde den Kindern selbst zugeschrieben, nicht der Institution. Wenn sie nicht mitkommen, "fehlt" ihnen etwas. Fähigkeiten werden vorausgesetzt, obwohl Schule eigentlich erst befähigen sollte.
Das ist ein Problem. "Zuwandererkinder und Arme bringen nicht die Voraussetzungen mit, die im bürgerlichen Deutschland erwartet werden, um das Schulsystem erfolgreich zu durchlaufen", sagt Edelstein. Das System grenzt aus und schult ab, wo es integrieren und fördern sollte.
Als Junge traumatisiert
Als kleiner Junge hat der Jude Wolfgang Edelstein in den Schulen Nazideutschlands am eigenen Leib erfahren, wie es ist, nicht dazuzugehören. Ausgegrenzt zu werden, weil man angeblich "anders" ist. 1938 verließ seine Familie das Land. "Ich bin im Alter von neun Jahren schultraumatisiert aus Deutschland nach Island gekommen", erzählt Edelstein. "Dort habe ich erlebt: Kinder sind willkommen, unabhängig davon, wie sie sind."
Island hatte damals schon eine neunjährigen Grundschule. In dem einwohnerarmen Land wurden Kinder prinzipiell geschätzt und anerkannt. Die wenigen Kinder reicher Eltern, die es gab, gingen in die gleiche Schule wie alle anderen. Edelstein erfuhr: Schule muss nicht per Prinzip ausgrenzen. Diese gegensätzlichen Erfahrungen haben ihn geprägt.
Oya aus der fünften Klasse steht mit einer Mitschülerin vor einer Pinnwand und redet eifrig auf sie ein. Immer wieder zeigt sie auf ein Blatt, das dort hängt. "Umweltschutz und für Afrika helfen" steht auf diesem Blatt. Es ist ihr Projekt, gemeinsam mit einer Freundin hat sie die Idee entwickelt und sich als Gründerin mit Namen eingetragen. Jetzt versucht sie, weitere Mitstreiterinnen zu gewinnen.
Die braucht sie, damit sie eine Chance hat, ihr Wunschprojekt zu verwirklichen. Außerdem muss sie sich Gedanken über Raum, Tag und Uhrzeit für ihr Projekt machen und einen Erwachsenen vorschlagen, der dabei sein soll. Die Mitschülerin nickt mehrmals und kichert. Bereitwillig nimmt sie den Stift, den Oya ihr hinhält, und trägt sich als Teilnehmerin ein. Oya sieht zufrieden aus.
Wolfgang Edelstein lebt in einem sicheren Land, aber er ist sich nicht ganz sicher. Er fragt sich, ob es wieder zu einer Spirale der Gewalt kommen könnte, wenn die Integration scheitert. "Die Gesellschaft wird mit extremer Gegengewalt reagieren", davon ist Edelstein überzeugt. Deswegen setzt er sich für ein demokratisches Bildungswesen ein.
"Demokratie fängt in der Kita an", sagt er und betont: In einer Demokratie zu leben bedeutet mehr, als wählen zu gehen. Es bedeutet, dem anderen mit Respekt zu begegnen, ihm Anerkennung zu geben und selbst Anerkennung zu erfahren. Es bedeutet zu erleben, wie die eigenen Anstrengungen fruchten. Edelstein nennt das Selbstwirksamkeit. Eine Erfahrung, die Kindern hilft, gelassene und wachsame Bürger zu werden.
Demokratie als Lebensform
Für die Schule bedeutet dieses Demokratiekonzept: Die Schülermitverwaltung reicht als demokratisches Element nicht aus. Damit die Schüler Demokratie auch wirklich erfahren können, müssen sich Formen und Strukturen der Schule so ändern, dass sie den Kindern auf Augenhöhe begegnet.
Demokratie als Lebensform funktioniert nur, wenn sie alltägliche Praxis wird, wenn Mitbestimmung und Teilhabe die Schule prägen. Das ist mit dem sperrigen Begriff Demokratiepädagogik gemeint, genau dafür setzt sich Edelsteins Gesellschaft für demokratisches Lernen ein.
Mittlerweile hängen an allen dreißig Pinnwänden in der Turnhalle der Richard-Schule Blätter, die Vorschläge der Schüler enthalten. Mode-Design, Tanzen und Singen sind die Renner unter den Schülerinnen, während die Schüler eine Pinnwand mit Blättern gepflastert haben, auf denen "Fußball" steht. Breakdance, Bodenakrobatik und einen Jungs-Club wünschen sie sich. Und eine Gruppe von Jungen und Mädchen möchte gern eine Band gründen, mit Schlagzeug, E-Gitarre und Klavier.
Manche Vorschläge sind dagegen auch ganz pragmatisch: eine tägliche Hausaufgabenhilfe möchten einige Schüler gerne. Auch einige Eltern haben sich überlegt, was sie anbieten können. Ein paar Mütter wollen einen Nähkurs anbieten, andere über ihre Migrationsgeschichte berichten. Und eine Freiwillige vom Knowledge-Club will mit den Schülern eine Zeitung machen.
Demokratiepädagogik will eine demokratische Schulkultur gestalten. Dafür kann sie etwa das folgende Instrumentarium aktivieren: Klassenrat, Lernen durch Engagement und Mobilisierung außerschulischer Akteure. Im Klassenrat, der basisdemokratisch organisiert wird, geben sich die Schüler selbst Regeln, wie sie miteinander umgehen, und bestimmen, wer für welches Amt oder welche Aufgabe die Verantwortung übernimmt.
Lernen durch Engagement bedeutet, dass die Schüler soziale Verantwortung im Umfeld der Schule oder in ihrer Gemeinde übernehmen oder eine Firma gründen, für die sie die Verantwortung übernehmen. Mit Mobilisierung außerschulischer Akteure ist gemeint, dass Eltern, Unternehmer, Künstler oder andere Akteure aus dem Umfeld an die Schule kommen oder mit Schülern Projekte machen. "Die Schule wird dann zu ,unserer Schule' und steht nicht mehr so isoliert von ihrem Umfeld da wie heute", erklärt Edelstein.
Anna Vatankhah von Bildung ohne Grenzen ist zufrieden. "Am Ende hat doch jedes Kind etwas gefunden, was es machen will", resümiert sie. Schulleiterin der Richard-Grundschule, Marita Stolt, meint, es hätten ruhig noch mehr Eltern mitmachen können.
Etwas chaotisch fand sie es zwischenzeitlich auch. Aber dem Ziel, die Bedürfnisse der Kinder kennenzulernen und herauszufinden, welche Angebote nachmittags wirklich fehlen, ist sie nähergekommen. Und: "Die Kinder haben tolle Ideen entwickelt", findet sie. Einige dieser Ideen herauszufiltern und mithilfe von Eltern und Ehrenamtlichen aus dem Richardkiez umzusetzen - das steht nun an. Freiwillige sind willkommen.
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