Projekt "Tweetscapes": Twitter zum Hören
Tweetscapes ist ein Projekt von zwei Berliner Musikern. Sie setzten den deutschen Twitter-Stream eins zu eins in Musik um. Es ist mehr als nur eine reine Spielerei.
Es ist immer viel von Überforderung die Rede, wenn es um das Echtzeit-Internet geht und um Live-Streams. All diese Fluten von Daten, die sie hervorbringen! Dieser Kontrollverlust! Man ersäuft ja quasi in den ganzen Meldungen, Tweets und Statusupdates. So klagen es die Skeptiker von Frank Schirrmacher bis Frank Schmiechen.
Dabei ist es eine Frage der Hilfsmittel. Wenn das eigene Hirn nicht mehr ausreicht, die ganzen Ströme, die Überfülle des Internets brauchbar zu machen, muss man auf Filter zurückgreifen: Sie begrenzen die Datenmengen und machen den Konsumenten wieder entscheidungsfähig.
Das klingt furchtbar funktional, aber es geht natürlich auch ganz anders, verspielter und fantasievoller: Tweetscapes ist so ein Projekt, das nicht auf Beschränkung setzt, sondern auf synästhetische Effekte: Es setzt den deutschen Twitterstream eins zu eins in Musik um.
"Jedes auf Twitter besprochene Thema", schreibt Anselm Venezian Nehls im Blog zum Projekt, "erzeugt einen charakteristischen Klang, so dass sich inhaltliche Zusammenhänge abstrahiert auch in der Soundscape wiederfinden und intuitiv mit den Ohren wahrgenommen werden können." Unterstützt von visuellen Effekten – auf einer Deutschlandkarte ploppen immer wieder auf Twitter genutzte Schlagworte auf – ergibt sich so ein Klangteppich, der Twitter in Töne übersetzt.
Auswege aus dem Datenoverload
Entwickelt haben die Seite Anselm Venezian Nehls und Carl Schilde, in Zusammenarbeit mit Deutschlandradio Kultur und dem Citec Institut der Uni Bielefeld. In Bielefeld arbeitet Thomas Herrmann mit an dem Projekt, im Rahmen einer ganzen Forschung über Sonifikation, also der Übertragung komplexer Datensätze in Musik.
Im Interview mit Dradio Breitband erklärt er, dass diese Umsetzung – beispielsweise von Aktienkursen oder Wetterdaten – nicht nur reine Spielerei ist, sondern ein Sinn darin bestehen könnte, diese Daten beispielsweise radiokompatibel zu machen oder blinden Menschen zugänglich. Aber auch in der neurologischen Forschung, der Geophysik und der Astronomie öffnet sich ein breites Anwendungsfeld.
Tweetscapes ist dabei nur ein Projekt unter vielen, wenn auch ein sehr markantes. Seit den frühen Neunzigern wird in Kunst und Naturwissenschaften immer mehr an Verklanglichung gearbeitet – allerdings standen die Verfahren immer im Schatten ihres Verwandten im Geiste, die Datenvisualisierung.
Beide Ansätze eint ein gemeinsames Unterfangen: Sie bieten zeitdiskrete Auswege aus dem Datenoverload und dem daraus resultierenden Kontrollverlust. Skepsis, hör die Signale.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“