Professorin über Gerechtigkeit: „Wissen beinhaltet westliche Überzeugungen“
Die Professorin Anna-Margaretha Horatschek beschäftigt sich mit Gerechtigkeitsvorstellungen in der wissenschaftlichen Arbeit. Diese seien selten Thema.
taz: Wie kann Wissenschaft ein Instrument sein im Dienst globaler Machtpolitik, Frau Horatschek?
Anna-Margaretha Horatschek: In vielerlei Hinsicht. Einmal durch den sehr konkreten politischen Einfluss, den gerade westliche Wissenschaften in der internationalen Politikberatung haben. Zweitens dadurch, wie Wissenschaft und Forschung funktionieren, wie sie organisiert und finanziert werden. Und drittens, etwas philosophischer gedacht, weil Wissen darüber mitentscheidet, wie über andere Kulturen gedacht und gesprochen wird.
taz: Ist dann der Westen das Problem oder die Wissenschaft?
Horatschek: Für viele Kritiker:innen sind der Westen und das, was als Wissenschaft gilt, untrennbar miteinander verbunden. Wissenschaft bietet Wissen, das nach strengen Regeln produziert wird. Damit ist viel Positives erreicht worden. Aber das Wissen beinhaltet häufig typisch westliche Überzeugungen, über die meistens gar nicht nachgedacht wird. In der Vorlesungsreihe beschäftigen wir uns zum Beispiel damit, ob westliche Gerechtigkeitsvorstellungen an Gerechtigkeitsvorstellungen von anderen kulturellen Traditionen überhaupt anschlusssfähig sind. Das ist besonders in der Entwicklungspolitik ein wichtiges Thema. In diesem Bereich ist es zum Beispiel ungerecht, wenn die betroffenen Menschen, für die Programme entwickelt werden, gar nicht gehört werden. Sie müssen viel mehr in die Planungen einbezogen werden, und da gibt es erst wenige Ansätze, wo das gemacht wird.
62, Literaturwissenschaftlerin, ist Professorin an der Uni Kiel.
taz: Sie beschreiben diese Phänomene anhand eines Beispiels…
Horatschek: Amitav Ghosh hat einen Roman geschrieben, der auf Deutsch übersetzt wurde mit dem Titel „Hunger der Gezeiten“. In meinem Vortrag gehe ich von diesem Roman aus, um die Ungerechtigkeit zu beschreiben, die westliche Wissenschaft mitverursacht. Kurzgefasst geht es in dem Roman um die Geschichte eines Massakers, das 1979 an den Bewohner:innen der indischen Sundarbans verübt wurde. Dort wurde in den 1970er-Jahren von der Unesco ein Tigerschutzreservat als Weltnaturerbe etabliert, das international wissenschaftlich begleitet und natürlich finanziert wird. Diese Maßnahme für den Artenschutz wurde dann von der Regierung als Rechtfertigung benutzt um die Dalits – die Ärmsten der Armen –, die sich dort angesiedelt hatten, mit militärischer Gewalt und unglaublicher Brutalität zu vertreiben. Bei diesem Einsatz kamen laut inoffiziellen Angaben über 4.000 Menschen ums Leben. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Konzepte für Umwelt- und Artenschutz, die im Westen entwickelt wurden, katastrophal waren für die Menschen vor Ort.
taz: Postkolonialismus spielt insbesondere in den Gesellschaftswissenschaften eine große Rolle. Geschieht da insgesamt ein Umdenken?
Horatschek: Ich würde sagen, ja. Theoretisch werden diese Probleme seit Jahren behandelt, aber in der Praxis sieht es anders aus. Es ist übrigens nicht nur global ein Problem, sondern auch innerhalb von Deutschland. Wenn über Migrant:innen oder bildungsferne Menschen geforscht wird, sind die da häufig nur am Rande beteiligt. Es sind die Expert:innen, die Modelle entwickeln, was mit diesen Menschen passiert und wie mit ihnen umgegangen wird. Es gibt aber mehr Aufmerksamkeit dafür. Es ist ein Thema.
„(Un)Gerechtes Denken: Wissen und Wissenschaft als Instrumente globaler Machtpolitik“, 12.12, 19 Uhr, Gartensaal im Hotel Basler Hof, Hamburg
taz: Das heißt, Wissenschaft müsste zugänglicher werden für alle?
Horatschek: Auf jeden Fall. Die Übersetzungsleistung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ist wichtig. Es muss ausformuliert werden, wie Wissenschaft funktioniert, was die unterschiedlichen Fachrichtungen leisten können – und wo ihre Grenzen sind.
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