Professor über Kachelmann-Prozess: "Alles ist relevant"
Jörg Kachelmann bekommt Recht: Einige Medien haben zu detailliert über seinen Prozess berichtet. Das Urteil kann sich aber noch ändern, erklärt Volker Boehme-Neßler.
taz: Herr Boehme-Neßler, das Oberlandesgericht Köln hat beschlossen, dass die von der Presse veröffentlichten Details zu dem Vergewaltigungsprozess gegen Kachelmann in keinem Zusammenhang mit dem konkreten Tatvorwurf stehen. Wenn diese Einzelheiten nicht relevant sind, warum wurden sie dann überhaupt vor Gericht vorgetragen?
Volker Boehme-Neßler: Ich bezweifle, dass die Details nicht relevant waren, und bin mir nicht sicher, ob das Oberlandesgericht das richtig gewertet hat. Grundsätzlich gehört in der Hauptverhandlung alles auf den Tisch und alles ist relevant. Aus diesem Gesamtbild ergibt sich dann das Urteil. Bei Sexualstraftaten kann es auch um die Frage gehen, welche Sexualpraktiken jemand ausübt, das kann eine Rolle spielen im Zusammenhang mit der konkreten Tat. Deswegen war es völlig richtig, dass der Ermittlungsrichter sich damit beschäftigt hat.
Was halten Sie von dem Urteil?
Einerseits finde ich das Urteil völlig richtig, auf der anderen Seite steht eine gefährliche Begründung im Urteil, über die man streiten muss. Im Ermittlungsverfahren sind schon intime Details veröffentlicht worden. Das ist unzulässig. Hier gilt die Unschuldsvermutung. Das haben manche Medien nicht beachtet, was nicht in Ordnung ist. Die Presse hätte die Ermittlungsakte gar nicht sehen dürfen. Die Begründung des Gerichts halte ich jedoch für falsch und gefährlich. Es heißt, nicht alles, was in der öffentlichen Hauptverhandlung vorgetragen worden ist, darf auch veröffentlicht werden.
Wie sind die Informationen dann an die Presse gekommen?
geboren 1962, hat Jura und Politikwissenschaft studiert. Er ist Professor für Öffentliches Recht und Medienrecht an der Hochschule für Technik Berlin. Er ist unter anderem Autor des Buches "Die Öffentlichkeit als Richter".
Derartige Details können nur über bestimmte Personen an die Presse kommen. In Frage kommen der Beschuldigte und sein Anwalt, die Staatsanwälte, die Richter oder die Polizei. Rein theoretisch kann es auch eine Schreibkraft gewesen sein. Eine dieser Personen muss die Ermittlungsakte an die Presse weitergegeben haben. Bei einigen Informationen, die über den Kachelmann-Prozess zu lesen waren, war klar, dass sie von der Seite der Verteidigung gekommen sein müssen, um sein Image zu verbessern. Die Anwälte dürfen das, die Staatsanwälte nicht. Die Teile der Akte, die nicht von den Anwälten von Kachelmann kamen, sind illegal an die Öffentlichkeit gelangt.
Was bedeutet das Wort "Öffentlichkeit" in der Justiz?
Die Hauptverhandlung ist deswegen öffentlich, weil Urteile in unserer demokratischen Justiz im Namen des Volkes verkündet werden. Das Volk muss jederzeit sehen können, was seine Justiz macht. Öffentlich heißt auch, dass die Presse darüber schreiben darf. In speziellen Fällen darf das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen, um Persönlichkeitsrechte zu schützen. Das muss sich das Gericht vorher überlegen.
Wer profitiert letztendlich von dem Urteil gegen die Medien?
Die Presseorgane, die hemmungslos aus der Ermittlungsakte veröffentlicht haben, haben eins auf die Finger gekriegt. Das ist rechtlich in Ordnung. Falsch ist, dass alle anderen Journalisten, die aus der öffentlichen Hauptverhandlung berichten, auch betroffen sind.
Was bedeutet das für die Gerichtsberichterstattung?
Jeder Journalist müsste überlegen, was er von dem, was er in einem öffentlichen Prozess gehört hat, schreiben darf und was nicht. Das kann man nicht verlangen. Das wäre auch ganz eindeutig ein Eingriff in die Pressefreiheit. Ich bin mir sicher, dass die Medien in Revision gehen und das Urteil vom Bundesgerichtshof geändert wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen