: Prinz vom Plus
Neulich im Supermarkt, die Schlange ist endlos lang. Doch plötzlich taucht ein Mann auf
Ich schätze die Anonymität der Großstädte. In den Straßen fühle ich mich angenehm allein und doch im genau richtigen Maße zugehörig. Man ist für sich – und doch ein bisschen wie die anderen. Wieso schätze ich es aber ebenso, wenn – wie neulich bei Plus – diese Unverbindlichkeit urplötzlich aufgehoben wird?
An einem ganz gewöhnlichen Samstag stehe ich mittags in einer langen Kassenschlange. Es geht nur langsam vorwärts. Zum Zeitvertreib sehe ich mir die Leute vor mir an und versuche zu raten, was in ihren Einkaufswagen liegt. Fettige Haare, röchelnde Atmung, abgewetzte Skijacke, Ende 30 – richtig: Bier, Wurstprodukte und Chips. Irgendwie kommt es immer ganz gut hin, denke ich befriedigt, und bin schon ein kleines Stück vorwärts gerückt. Küchenpsychologie als unverbindlicher Ersatz für Konfrontation, diagnostiziere ich, meine Gedanken abschließend.
Plötzlich drängelt sich ein fröhlicher, korpulenter Mann in der Schlange nach vorne und kommentiert dabei ungehemmt die Produkte der Einkaufenden: „Diese Pizza – also die is nix!“, „Ho ho hoo, so viel Bier! Gibt’s was zu feiern?“ Antworten wartet er nicht ab, und die Leute wissen nicht, ob sie lachen oder sich empören sollen. Doch der Dicke wäre ohnehin über jede Reaktion erhaben: Mit großer Selbstverständlichkeit schiebt er sich trotz Körperfülle elegant an allen Wagen vorbei bis an die Kasse. Höheres hat er im Sinn, dieser Prinz vom Plus: Mit verschmitztem Gesichtsausdruck baut er sich vor der Kassiererin auf, dreht sich noch einmal kurz zu seinem Publikum, um dann klar und deutlich zu der blonden Frau im blauen Kittel zu sagen: „Verehrteste! Möchten Sie meine Frau werden?“ Alle halten den Atem an, ein kleines Mädchen kichert.
Seelenruhig zieht die Kassiererin weiter die Ware über den Scanner, es piept einmal, zweimal, dreimal. „Fünf Euro siebenundneunzig“, sagt sie zu dem Mann mit der Skijacke. Und nach einer Pause zu dem Dicken: „Darüber sprechen wir am besten noch mal zu zweit. Um 19 Uhr hab ich Feierabend.“ Dem Dicken scheint der Aufschub nichts auszumachen, nur wir anderen sind traurig, dass die Geschichte für uns hier endet. Trotzdem haben viele ein Lächeln auf den Lippen, und einige knüpfen sogar Gespräche mit ihren Einkaufsgenossen an. ELINA KRITZOKAT
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